Ressort: Lebenskunst(Weitere Infos)

22.Januar 2015, 22:11

Grenzen setzen, auch der Heuchelei

Was braucht es, um sich in der Gesellschaft behaupten zu können? Was müssen wir alles lernen, um endlich anderen Grenzen setzen zu können? Mein erwachsen werden hat viel mit dieser Frage zu tun.

Ich wuchs in einem Hause auf, in dem sich eine Person meist durchsetzte (wahnsinnig überraschende Aussage, ich weiss – das ist in praktisch allen Häusern so…). Das besonders Trickige daran war, dass sich dies nicht im Austragen von Konflikten offenbarte, in deren Verlauf man einfach den Kampf um das eigene Anliegen verlor. Nein. Wir trugen gar nichts aus. Und ich bekam auch noch eine Strategie mit auf den Weg – dass es nämlich wichtig sei, einen guten Eindruck zu machen. Ich startete also als relativ harmoniebedürftiger Jüngling in die Erwachsenenwelt. Ich fand meine Steckenpferde, mit denen ich mich behaupten konnte: Ich spielte anständig Fussball, konnte gut argumentieren und lernte allmählich, einen Deut auf die Meinung anderer zu geben. Aber das vollzog sich sehr schleppend. Lange Zeit konnte es vorkommen, dass ich auch noch dem grössten Esel durchaus zutraute, dass er besser wusste, was gut war für mich, als ich selbst. Bis mir die Mechanismen, die dazu führten, ob man lieb Kind der Klasse war oder eben ein Aussenseiter, einfach zu blöd waren. Es hätte viel zuviel Aufwand bedeutet, einem Bild zu entsprechen, für das mir dann doch die Talente fehlten. Aber ich konnte bissig werden, wenn man mir blöd kam und hatte auch keine Angst, mir einen blutigen Kopf zu holen, wenn das denn dafür drohen sollte. Was dann doch nie geschah.

Doch wenn mich niemand in die Ecke trieb, dann nahm ich Konflikte kaum wahr. Ich tat so, als wäre alles in Ordnung, und gab mich mit Menschen ab, die mich langweilten oder mit solchen, die so komplett anders lebten, als ich es wollte, dass wir gar nicht eine Ebene finden konnten, auf der wir hätten Kaffee trinken können zusammen. Und das alles einfach, weil ich es nicht fertig brachte, auf Abstand zu gehen. Eine Menge vertrödelte Zeit wegen Heuchelei – zu aller Schaden.

Heute ist das nicht mehr so. Heute können alle Menschen, die mit mir zu tun haben, sicher sein, dass ich mich gerne mit ihen auseinandersetze. Und wenn mir dabei etwas aufstösst, dann teile ich es mit. Ich bin erwachsen geworden. Jenseits der Fünfzig beginnt das Leben wahrhaftiger zu werden.

 

 

2 Gedanken zu „Grenzen setzen, auch der Heuchelei

  1. ClaudiaBerlin

    Vielleicht ist es nicht das „erwachsen werden“, sondern das „alt werden“, das du hier beschreibst! 🙂

    Ich vermute, das Abnehmen der Sexualhormone spielt eine Rolle dabei, dass wir im vorgerückten Alter persönlich souveräner werden, unabhängiger von den Bewertungen Anderer. Die Natur (=fortpflanzungsinteressiert) und auch die Horde (=wir sind Primaten) mit ihren Kämpfen um den sozialen Rang verliert ihren Einfluss, indem wir älter und damit unwichtiger für den Fortbestand werden. Ich denke, dies geschieht tatsächlich auf einer materiellen Basis von Hormonen, Botenstoffen etc. – aber es drückt sich kulturell und individuell verschieden aus.

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    1. Thinkabout Beitragsautor

      So biologisch habe ich das noch nie gesehen – aber gut möglich, dass daran was ist.

      Nur beziehen sich meine Gedanken eigentlich durchaus auch auf die Fähigkeit, im Rahmen einer gestalterischen Arbeit, voll im Saft inmitten eines geschäftlichen oder sozialen Kontextes ganz bei sich und seiner eigenen Meinung und Haltung bleiben zu können.

      Ich habe also eher das Gefühl, erst jetzt erwachsen zu werden… Also alt genug für etwas zu sein, aber noch nicht zu alt… wobei, für den Umgang mit meinem Ärger wäre das ja schon nicht schlecht…

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