Ressort: Gesellschaft(Weitere Infos)

08.Dezember 2015, 6:29

Wie fühlen Sie sich im Krieg?

Spüren Sie auch, wie wir im Krieg sind? Die Lage ist ernst. Wir sind im Herzen unseres Gemeinwesens angegriffen worden. Unsere Grundfeste sind erschüttert, und wir müssen mit aller Macht zurückschlagen, um den Feind zu bekämpfen.

Wir diskutierten wochenlang das Flüchtlingsproblem. Ich hätte hier gerne geschrieben: Unser Flüchtlingsproblem. Aber wir machen das ja nicht so gern, so ein Problem, das so plötzlich an uns heran getragen wird, dann wirklich auch als unser Problem zu bezeichnen. Wir diskutierten also das Problem, und das wichtigste Argument dafür, dass das Problem doch weit weg bleiben sollte, war die rationale Meinung, dass Flüchtlinge Aufnahme in deren Kulturkreis finden sollten und die Ursache, die Flüchtlinge Flüchtlinge werden lässt, ebenda zu bekämpfen sei.

Teilweise war sie zu hören, die Reflexion, dass wir begännen zu ernten, was wir Westler vor langer Zeit säten und immer weiter gesät haben, und man konnte Sätze hören wie: Die Waffen, die wir in den arabischen Raum verkauften, kommen als Flüchtlinge zu uns zurück.

Und dann werden mitten in Paris hundertzwanzig Menschen getötet. Wahllos. Sinnlos. Emotionslos. Von Dschihadisten oder zumindest von Fanatikern, die sich dem IS verschrieben haben.

Und ein einziger Terroranschlag reicht aus, dass für uns nichts mehr ist, wie es war. Wir haben jahrzehntelang von Bombenanschlägen berichtet bekommen im nahen Osten, von tausenden von Toten, sinnlos niedergemacht von einem Krieg, den niemand anders verstehen muss denn als Kampf ums Öl. Und niemand hier kommt auf den Gedanken, dass damit die Brut gebärt wurde, die uns heute als Hass entgegen schlägt? Dabei braucht es auf unserer Seite die Erschütterung einer einzigen Mordnacht, und wir legen los wie die Feuerwehr – und lassen Kampfjets hoch steigen und Ziele aus der Luft in Syrien und anderswo beschiessen, und Bomben abwerfen – die wiederum Zivilisten töten. Wir tun genau das, was uns weitere Flüchtlinge bescheren wird, und wir verhalten uns genau so, wie es junge Männer „da drüben“ tun, die sich erniedrigt fühlen oder auch nur fehlleiten lassen von Bildern, die man ihnen von uns zeichnet, die fanatisch gemalt sind. Aber ist das wirklich so schwer zu verstehen? Lieben muss uns da drüben wirklich keiner.

Ausspucken mag da so mancher. Und das mit mit mindestens dem gleichen subjektiven Recht, mit dem wir nun so reagieren, wie wir eben reagieren.

Wir können nun lange diskutieren über die Politik von Frau Merkel, die sich „in dieser schweren Stunde an die Seite Frankreichs stellt“, über die Berichterstattung der Leitmedien, über die Verschwörungstheoretiker auf Facebook oder in Blogs, und wir können uns auf eine Seite schlagen und debattieren. Oder auch nur skandieren und schreien.

Das können wir tun und machen wir ja auch. Aber wo wir wirklich gefragt wären, da bekennen wir keine Farbe. Wir lassen uns exakt so manipulieren, wie es sich der IS wünscht: Wir können nicht akzeptieren, dass die Scheisse in Syrien beschissenerweise auch unser Mist ist und bleibt und immer mehr wird, weil dieses Ding da mit der Globalisierung und den weltweiten Geldströmen und Rohstoffmärkten und Waffenlieferungen und Börsennotierungen den Markt immer grösser, die Welt aber immer kleiner gemacht hat. Was wir heute im nahen Osten verursachen oder geschehen lassen, fällt ganz anders auf uns zurück als vor zwanzig Jahren.

Die Menschen bleiben einfach nicht mehr in den Erdlöchern hocken, in die sie gebombt wurden.

Wir behüteten Romantiker einer friedlichen Welt, in der wir an die Demokratie „glauben“, uns aber nicht in die Verantwortung begeben, sie auch wirklich im Innern verteidigen zu wollen, müssen endlich lernen, dass unser Verhalten Konsequenzen hat und wir uns blutige Köpfe holen können. Aber sind wir deswegen im Krieg? Nein. Wir sind in der Verantwortung. Und diese wahrzunehmen, würde bedeuten, vor allem andern zu sehen, dass bei Nine Eleven wie jetzt in Paris Muslime, Christen, Juden gestorben sind, dass in Syrien und im ganzen arabischen Raum Angehörige aller ethnischen Gruppen leiden und zu Tode kommen. Und dass wir auf Bedrohung, Wut, Gewalt und Terror aufgerüttelt reagieren können, aber eben nicht so absurd, dass daraus wiederum nur Geld für die Waffenlobby generiert wird – und dem Bürger die Notwendigkeit von Sicherheitsvorkehrungen verkauft wird, die nur eines am Ende mit Sicherheit bedeuten: Reduzierung der Bewegungsfreiheit, Schüren von Angst, freie Bahn für reaktionäre Politik.

So hart es ist für die Betroffenen, welche Angehörige verloren haben: Hundertzwanzig Tote rechtfertigen es nicht, dass wir unser Herz und Hirn ausschalten und Amok laufen. Auch Tausende Tote würden das nicht rechtfertigen. Wäre dem bei Ground Zero nachgelebt worden – die Welt hätte sich anders weiter entwickeln können. Jetzt ist diese Art Herausforderung vor unserer Haustür angekommen. Das ist aber kein Grund, nicht mehr vor die Tür zu gehen. Im Gegenteil.

Vielleicht ist der Sieg der Rechtspopulisten in Frankreich so wenig aufzuhalten wie an vielen anderen Orten im Westen auch. Wenn dem aber so ist, so hat auch das sehr direkt und sehr entscheidend mit unserer Unfähigkeit zu tun, auch nur ein kleines Bisschen von Unwägbarkeit ertragen zu können. Daran sollten wir arbeiten. Und uns damit für jede Art Angstmacherei unempfänglich machen.

 

2 Gedanken zu „Wie fühlen Sie sich im Krieg?

  1. David Bürgisser

    Lieber Kurt

    Ich beschäftige mich seit geraumer Zeit mit genau diesen Fragen. Es geht mir genau so. Wir gehen mit einer Naivität an diese Sache und lassen uns blenden von Medien und Staat. Zitat Daniele Ganser: „Hat der Feind einen Namen, hat der Tag Struktur.“

    Wir sind die Produzenten des Terrorismus und generieren eben diesen nur noch stärker mit unseren ‚Vergeltungsschlägen‘.

    Ich könnte hier noch tausend Zeichen schreiben aber ich würde nur dich wiederholen.
    Danke für den Beitrag. Denk weiter kritisch.

    lieber Gruss
    Dave (Junior von Röbi)

    Antworten
    1. Thinkabout Beitragsautor

      Lieber Dave

      Natürlich weiss ich, wer Du bist! Wie ich mich über Deinen Kommentar freue!
      Deine Aufmunterung in Form einer Aufforderung gebe ich gerne zurück!
      Danke für das tolle Zitat, das ich nicht kannte und sehr, sehr gut finde.

      Liebe Grüsse
      Kurt

      Antworten

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