Nein, ich bin kein Wutbürger. Noch nicht. Aber ich verstehe die Menschen, die sich Pegida-Demonstrationen anschliessen – oder zumindest damit sympathisieren.
Ja, die Bewegung zieht viele rechtsextreme Elemente an. Womöglich hat sie auch zweifelhafte Initianten. Teilweise. Aber ist deshalb die Befindlichkeit vieler Menschen im Westen totzuschweigen oder von der Presse lächerlich zu machen?
Angela Merkel hat in ihrer Neujahrsansprache vor dieser Bewegung gewarnt und jegliche Hassparolen verurteilt. Das ist ihr gutes Recht, und die schlafenden Geister der Vergangenheit mögen ja tatsächlich nicht tot sein.
Was aber aktuell geschieht, ist absolut nicht tauglich, diese Strömung aufzuhalten – und die Ignoranz vieler Medien, welche schlicht jeden für dumm und asozial oder für einen Stammtischkneipensaufkopf halten, der auf islamistische Parolen mit Gegenparolen antwortet , ist mindestens ebenso gefährlich für unsere Zukunft: Denn hier wird ein tiefes, sich schnell verbreitendes Unbehagen grosser Teile des westlichen Bevölkerung totgeschwiegen, politisch bekämpft und mit gefilterter Berichterstattung angegangen.
Wenn wir denn schon eine so tolerante und säkulare Gesellschaft sein wollen, in der Menschenrechte und das Recht auf Bildung für alle gelten, wenn wir uns der Demokratie verschreiben und deren Wohltaten preisen, dann gehört dazu auch die Respektierung jener Institutionen in unseren Ländern, welche diese Werte verteidigen und durchsetzen. Es gehört also dazu, dass sich bei uns wohnende Menschen zum Rechtesystem bekennen und unsere Schulen besuchen. Und unser Schulsystem ist auch mit der Aufführung eines Krippenspiels nicht unzumutbar für andere Religionen. Keine Schule bei uns muss aus Rücksicht auf fremde Religionen und deren „Gefühle“ auf den Erhalt traditioneller Veranstaltungen verzichten. So, wie wir in unserem Alltag mit religiösen Motiven, Symbolen und Traditionen umgehen, so ist es auch fremden Kulturen zuzumuten, innerhalb dieses Systems ihren Platz zu suchen und zu finden – und den bestehenden Traditionen Achtung und Interesse entgegen zu bringen.
Es kann aber keine Toleranz für intolerante Menschen geben, und es kann nicht sein, dass wir Parallelgesellschaften hinnehmen – nicht mal in Ansätzen. Ja, ich spaziere auch gerne durch Neukölln und geniesse die Vielfalt und Farbigkeit, die Exotik des Warenangebots und der Geschäfte. Ich bin da ein Tourist aus der Schweiz, und das Fremde ist mir als Fremdem die schiere Lust auf Entdeckung. Aber ich kann mich nicht wundern, dass die Entwicklung des Stadtteils bei vielen Berlinern befremden auslöst. Denn je eigenständiger eine kleine Gesellschaft in einem grösseren Ganzen funktioniert, um so weniger Berührungspunkte und Durchlässigkeiten sind oft die Folge. Und dieser Wille zur Durchlässigkeit kann nicht nur von den Eingesessenen verlangt werden.
Wenn wir aber so tun, als gäbe es das Problem des Fremden, gerade in der uns so fremden Kultur des Islam nicht, oder wenn wir nur schon von unserer Gesellschaft verlangen, dass sie gefälligst damit umzugehen hat, wenn wir diesen Umgang mit so viel Ignoranz einfach als selbstverständlich voraussetzen – dann können wir tolle Reden schwingen und Zeitungsartikel verfassen, und wenn dann das Problem endgültig brodelt, dann wird der Kummer über die thumbe braune Brut gross sein – aber die Schuld dafür liegt auch bei jenen, die einfach nicht anerkennen wollen, dass man schlicht Schiss haben kann vor den Tendenzen, die sich andeuten. Es spielt auch keine Rolle, wie gross die Zahl der nicht integrierungswilligen Muslime schon ist. Entscheidend ist allein, dass wir uns fremd sind. Und es ist die Schuldigkeit der Politik und der Presse, dies ernst zu nehmen.
.
Wie soll denn eine „echte Auseinandersetzung“ mit irrationalen Ängsten gehen? Diese Leute sind Argumenten nicht zugänglich und protestieren verrückterweise dort, wo es Immigranten nur in quasi „homöopathischer“ Dosis gibt, was am Beispiel Dresden sehr gut zu zeigen ist.
Auch in Berlin protestiert niemand in Neukölln, das ganz im Gegenteil dabei ist, ein „In-Bezirk“ zu werden – Studierende und Künstler sind bereits da, die „Gentrifizierer“ folgen auf dem Fuß. Dagegen demonstriert die NPD zusammen mit „Wutbürgern“ gegen Flüchtlingsunterkünfte in Marzahn und Köpenik – wiederum nahezu migrantenfreie (Ost-)Stadtteile. Zum Glück stellen sich ihnen regelmäßig Bürger in den Weg, die die Flüchtlinge willkommen heißen und gegen diesen Ausgrenzungs- und Abschiebewünsche demonstrieren.
Die berechtigte Empörung über die Verbrechen dieses sog. „islamischen Staats“ wird derzeit aufs Übelste BENUTZT, um xenophoben Ressentiments einen vermeintlich akzeptablen Rahmen zu geben, die sich gegen Flüchtlinge wenden, die aus Kriegsgebieten zu uns kommen. Ja, da flüchten eine Menge Syrer vor IS – und die sollen hierzulande „aus Angst vor Islamisierung“ abgewiesen werden? Wie verrückt wäre das denn!!!
Krippenspiele finden im übrigen traditionell in Kirchen statt, nicht in Schulen, zumindest nicht in Berlin. Was auch nicht wundert, denn:
„Knapp 60 Prozent der Berliner sind konfessionslos, 21,5 Prozent evangelisch, 9,3 katholisch, 6,5 Prozent sind Muslime und 0,6 Prozent gehören einer anderen Religion an.“
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/berlin/berlinerstatistik/1670484.html
Ein friedliches 2015 wünsche ich!
Liebe Claudia,
Ich danke Dir für Deinen Kommentar und möchte detailliert darauf eingehen:
Ich möchte es gerne versuchen: Das erste Problem ist schon, dass wir die Ängste als „irrational“ bezeichnen – und das als Fakt annehmen, quasi schon weiter springen zum nächsten Punkt. Warum sind sie irrational? Was geschieht denn an Orten, an denen die muslimische Population zunimmt? Wie stark wächst dann der Druck auf Schulen und Behörden, Sonderregelungen zu akzeptieren? Und wenn in Dresden der Protest so laut ist trotz 2% Ausländeranteil, wie ich wo gehört habe, dann ist anzunehmen, dass sich die Unzufriedenheit eben auch daran entlädt, dass das Migrationsproblem einen Platz in der öffentlichen Diskussion der Leitmedien einnimmt, den die hiesigen Menschen gerne für sich reklamieren würden: Wie schnell sind die Medien bereit, sich für die Toleranz gegenüber ausländischen Bevölkerungsgruppen zu verwenden – und wie sehr oder wie wenig halten sie den Finger drauf, wenn es um die Bedürfnisse der Landsleute geht? Das ist das noch immer, nein, das immer wiede rmehr latent sich verstärkende Gefühl vieler Deiner Landsleute im Osten: Die Balance stimmt einfach nicht. Und der Druck auf Löhne, Hartz IV und andere Entwicklungen werden dann schon mal mit dem Zuwanderungsproblem verknüpft. Und, ehrlich gesagt, ich kann von mir aus nicht behaupten, dass das nicht zu verstehen wäre!
Das sieht aber der Bezirksbürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky, ein kleines bisschen anders. Was Du ansprichst, ist die Anziehung, die ich selber ja auch zum Ausdruck gebracht habe. Ich liebe in Neukölln manche Ecke. Aber das ist die Romantik der Intellektuellen, Verzeihung, und „gewöhnliche“ Leute sehen eher die Konkurrenz. Veränderungen bringen Zuzug – aber niemand spricht von jenen, die wegziehen (mussten).
—
Dass die Furcht vor dem IS zur Anheizung der Xenophobie benutzt wird, mag stimmen. Aber ich staune immer wieder, wie wenig wir bei unseren Positionierungen auf die Befindlichkeiten und Meinungen jener Muslime unter den Flüchtlingen achten, die schon eine Weile hie rleben und sich zu den säkularen Bürgern zählen, also genau so wie wie viele von uns ohne die Dominanz der Religion in der staatlichen Organisation leben wollen. Und diese Menschen haben regelmässig das gleiche Problem: Je grösser die Population der eigenen Ethnie in der Fremde wird, um so grösser wird der Einfluss radikaler Strömungen. Denn die Diskrepanz der Lebensstile ist enorm, und vieles, was Du selbst als freiheitlich an unserer Gesellschaft schätzt, empfinden viele Muslime schlicht als dekadent. Diese Schere schliessen wir aber nicht, wenn die Menschen mal hier sind. Dafür reicht weder unser finanzielles Engagement noch die gestalterische Kraft unserer Gesellschaft. Und dazu sollte man auch stehen und dieses Problem nicht schönreden (wobei ich da nicht an Dich denke).
—
Das Problem, über das wir diskutieren, gibt es ja nicht nur in Berlin. Und das Beispiel der Krippenspiele gibt es bei uns tatsächlich. Und das löst sehr wohl schockartige Gefühle aus.
Schockartige Gefühle, weil kein Krippenspiel in der Schule? Das mutet mich sehr seltsam an, vorsichtig gesagt, aber ich habe ja keine Ahnung, welchen Stellenwert „Krippenspiel in Schulen“ in der Schweiz hat!
„Was geschieht denn an Orten, an denen die muslimische Population zunimmt? Wie stark wächst dann der Druck auf Schulen und Behörden, Sonderregelungen zu akzeptieren?“
Natürlich wächst der! Schließlich hat es wenig Sinn, partout an Traditionen festzuhalten, wenn relevante Teile der Zielgruppe damit nicht nur nicht erreicht wird, sondern diese sich sogar belastet, beleidigt, ausgegrenzt fühlt.
Es handelt sich dabei aber um Veränderungen, die man eben im Einzelnen gesellschaftlich (+ zuvorderst in der jeweiligen Schule) diskutieren und entscheiden muss. Die Zuzügler haben m.E. durchaus ein „Recht auf Wiedervorlage“ der GUTEN GRÜNDE für unsere Regelungen und Gewohnheiten. Da sind wir dann halt gefordert, mittels der viel beschworenen „westlichen Werte“ erneut zu bedenken und zu beschließen, was gut und gerecht für möglichst alle ist. Ja warum denn nicht?
Ein wichtiges Kriterium in solchen Abwägungen wird in aller Regel die Prüfung des Nutzens und Schadens sein, den eine Neuregelung mit sich brächte.
Was ist schlimmer? Im Schulessen kein Schweinefleisch mehr vorzufinden (aber häufig anderes Fleisch) oder gar nicht mitessen können, weil von der eigenen Religion verboten?
Beim Schwimmunterricht wird man vielleicht zum Ergebniss kommen, dass Ganzkörper-Badeanzüge getragen werden dürfen, aber nicht müssen, der Schwimmunterricht jedoch auf jeden Fall BESUCHT werden muss.
Ich könnte noch mehr Themen durchgehen, belasse es aber dabei, denn ich will vor allem sagen: Es spricht nichts gegen Veränderungen, sie müssen aber besprochen und „neu verhandelt“ werden. Man sitzt im übrigen nicht von jetzt auf gleich in einer Klasse mit 90% Migrantenkindern – sowas geht über Jahrzehnte und ist von vielen zu verantworten (die Alternativen sind in einem freiheitlichen Staat auch kaum umsetzbar).
„…..und vieles, was Du selbst als freiheitlich an unserer Gesellschaft schätzt, empfinden viele Muslime schlicht als dekadent…“
Vieles, was ich an unserer Gesellschaft als freiheitlich schätze, hab‘ ich als Teil einer rebellischen Jugend einst selbst mit erkämpft. Ich hab noch Gesprächsrunden wie „dürfen Mädchen Hosen tragen?“ in der Gemeinde miterlebt und eine frühe Kindheit in Schwaben, wo es zumindest auf dem Dorf normal war, dass Frauen Kopftücher trugen.
Vorehelicher GV galt noch als Sünde, nackte Haut im Film war ein Skandal, Frauen hatten kaum Rechte abseits ihrer ehelichen Pflichten, die Hausfrauenehe war standard…. und schaut man noch ein paar Jahrhunderte zurück, dann ist das christliche Abendland nicht mal vor Greueln und Grausamkeiten (a la IS) zurück geschreckt, ganz im Gegenteil!
Wir sollten aufhören, von „westlichen Werten“ zu sprechen, sondern uns dazu bekennen, universale Rechte (und Pflichten) anzustreben. Die müssen aber eben im Detail, diskutiert, ausgehandelt und manchmal auch erstritten werden – von Kopftuch über Beschneidung bis hin zu TTIP (ja, obwohl „innerwestlich“).
Statt dessen ignoriert man einander weitgehend und weicht Konflikten möglichst aus, was ganz kontraproduktiv ist, aber der trägen Art der Menschen entspricht.
Dass diese Ignoranz auch in Politik und vielen Institutionen, die eigentlich dem Gemeinwohl verpflichtet sind, so lange mitgetragen wird, ist m.E. auch den christlichen (Staats-)Kirchen zu „verdanken“. Eine wesentliche Konfliktlinie verläuft nämlich nicht zwischen Moslems und „Abendländern“, sondern zwischen Ernstgläubigen einerseits und Weltlichen und „Lauen“ andrerseits. Die „mit dem Glauben richtig Ernst machen“ (überall eine kleine Minderheit) sind oft auch als Christen keine angenehmen Zeitgenossen – und viel von der Kritik am dekadenten Westen von radikalislamischer Seite würden diverse Sekten, Freikirchen und pietistische Gemeinden ja locker unterschreiben!
Die sehr „weltlich“ gewordenen verfassten Kirchen setzen sich mit den Radikalen innerhalb der Christenheit schon lange nicht mehr auseinander. Man hat den Konflikt über Jahrhunderte quasi institutionell überlebt, seltsame Grüppchen ausgegrenzt oder ignoriert. Echte Gespräche über den Glauben und seine Implikationen fürs tägliche Leben – findet so etwas noch irgendwo statt? Unter Berücksichtigung, dass es immer „Ungläubige“ gibt?
Wer also soll jenen antworten, die nicht tolerierbare Regeln für alle etablieren wollen, begründet mit Verweisen auf die Offenbarungsqualität eines heiligen Buchs? Gott hat es so angesagt bzw. über Propheten vermittelt….. da steht es doch! Menschen, die an einen solchen Gott nicht glauben, sind für solche Gläubige nicht gesprächsrelevant, egal was sie sagen.
Aber die institutionalisierte Christenheit schweigt… geht jedenfalls nicht in diesem Sinne in Medias Res.
Na, sorry.. ich bin mal wieder von diesem zum jenem gekommen!
Deshalb soll das jetzt mal reichen! 🙂
Ach ja, P.S. Neukölln: Mittlerweile ist die damalige „Problemschule“ eine Vorzeigeschule und gewinnt Preise!
Was ich immer wieder so bemerkenswert finde:
Wir loben unsere Errungenschaften, die Menschenrechte und Frauenrechte. Wir verdächtigen unsere Kirchen des Reaktionismus und der Intoleranz auf Grund einer Annahme der Autorität eines nicht kritisierbaren Gottesbildes, weil nur zwischen gläubig und ungläubig unterschieden wird. Wir sind also auf Schritt und Tritt bereit, die säkulare Struktur unserer Gesellschaft hoch zu halten und auf die eigenen Religiösen einzudreschen.
Du schmust in Gedanken mit Deinen eigenen Kämpfen zur Freiheit der Frau, Hosen zu tragen.
Wir diskutieren die Frauenquote für Ämter, Volksvertretungen und Firmenführungen.
Und reklamieren gleichzeitig Selbstbestimmungsrechte der Muslime, bei denen all diese Errungenschaften negiert werden, Jungen ihrer Lehrerin die Hand nicht geben wollen, um nicht unrein zu werden.
Du setzt nun Deine Toleranz dafür ein, dass streng religiöse muslimische Frauen (oder vielleicht besser Frauen streng religiöser Muslime) im Burkini schwimmen können und voll verschleiert bleiben. Du nimmst selbstverständlich an, dass dies alles selbst gewollt ist und natürlich keine freier denkenden Muslime dieser Gesellschaften damit intern unter Druck geraten.
Du akzeptierst gegen das eigene Unbehagen gegen christliche Überbleibsel in unserem Alltag die religiös motivierte Argumentation einer fremden religiösen Ethnie, die sich in ihren Glaubensgefühlen durch unsere Usanzen verletzt oder beleidigt fühlt.
Dein Unbehagen gegen die Reste unserer kirchlichen Einflüsse auf unseren Alltag ist grösser als das Befremden über Teile einer fremden Kultur, die hier Sonderregelungen verlangt, um in dieser Kultur verhaftet bleiben zu können.
Sag mal, meinst Du das – als Vegetarierin notabene – wirklich ernst? Es ist genau diese vorauseilende Art, die Usanzen bei der kleinsten Einschränkung für einen Teil der „Betroffenen“ komplett zu ändern. Und es ist genau das, was viele Menschen auf die Palme bringt. Islamisch motivierte Befindlichkeiten werden zu einem Politikum, insturmentalisiert und überhöht. Es wird kein muslimisches Kind an Unterernährung sterben, wenn es in der Schulkantine manchmal auf Fleisch verzichten muss, weil gerade Schweinefleisch im Angebot ist.
Bei dieser deiner Antwort hab ich glatt den Eindruck, dass du gar nicht auf das eingehst, was ich konkret sagte! Ich habe doch nicht geleugnet, dass es Konflikte gibt, wenn Traditionen, Religionen, Weltanschauungen unterschiedlicher Kulturen aufeinander treffen.
Dabei spreche ich mich aus guten Gründen dafür aus, die Dinge vor Ort und jeweils mit allen Beteiligten zu diskutieren und nach einer Abwägung über Schaden und Nutzen (westliche Werte!) zu entscheiden. Das sollte gerade beim Schulessen leicht fallen, da man ja gleich mehreren Interessen entsprechen kann, indem man zwingend eine fleischlose Alternative vorsieht.
Integration geht nur so: mit gelebter Auseinandersetzung über Unterschiede und im Ringen um einen für alle Seiten erträglichen Konsens. Irgnoriert man nämlich alle Anliegen der Immigranten nach dem Motto „mir san mir und IHR habt Euch gefälligst in allen Details anzupassen“, dann erschafft man erst recht „Parallelgesellschaften“ und stabilisiert das, was man selbst als falsch empfindet. Wer nämlich schon bei Kleinigkeiten, die niemandem schaden (wie EIN schweinefleischfreies Schulessen) ignoriert und gemaßregelt wird, wird kaum bereit sein, bei wichtigen Basics „unsere“ Positionen in Betracht zu ziehen!
Die Sonderwünsche der Ur-Bevölkerung sind im übrigen oft weit exotischer (vegan, laktosefrei, glutenfrei…) und schwieriger umzusetzen – aber da regt sich kaum jemand drüber auf. Und eine Doku über „jüdisches Leben in Deutschland“ zeigte kürzlich einen Rabbi, der freundlichst zu begründen versuchte, warum orthodoxe Juden Frauen nicht die Hand geben… Den Juden zuliebe wurde gar ein Beschneidungserlaubnisparagraph eingeführt – wäre das nur eine muslimische Sache, wäre das nicht passiert!
Nein, das nehme ich nicht selbstverständlich an und wie viele hatte ich zu Beginn dieser Debatte auch spontan die Position: um Himmels Willen, die spinnen doch! Diese Frauen müssen BEFREIT werden…
Dabei bin ich aber nicht stehen geblieben, sondern habe die Debatte weiter verfolgt – unter Berücksichtigung auch der Einlassungen verschiedenster muslimischer Frauen und Mädchen, die das Kopftuch, den Hijab, wahrlich freiwillig tragen, nicht nur aus religiösen Gründen, sondern auch als PROTEST gegen ihre Elterngeneration (!) oder als identitätsstiftendes Element etc. (In meinem Feedreader gibts auch eine Abteilung „muslimische Blogs“, ich empfehle mal Lieselotte, die auch das Mode-Blog „Gut betucht“ führt. Oder grenzgängerbeatz, das Blog von Eren Güvercin) . Ein Blick auf die hochmodisch gestylten Hijab-Trägerinnen in Kreuzberg macht auch durchaus erlebbar, dass hier nicht „Unterdrückung“ waltet!
Wirklich UNTERDRÜCKTE Frauen wird man nicht mit Kleidungsvorschriften befreien, denn die dürfen dann eben gar nicht mehr raus, wenn „Verschleierung“ einfach verboten wird. (Ich persönlich bin gegen Gesichtsverschleierung, egal bei wem und warum, würde das aber nur in öffentlichen Institutionen gesetzlich durchsetzen. Ansonsten sollen alle tragen, was sie wollen. Eine Position, die eigentlich auch schon wieder bröckelt, denn angesichts zunehmender Totalüberwachung wünsch ich mir glatt eine Masken-Mode für alle…).
Es gibt keine gleichförmige Masse muslimischer Einwanderer, die mittelalterliche Verhältnisse einführen will, wie es die stets aufgeregten, Vorurteile verstärkenden Schlagzeilen nahe legen, sondern viele unterschiedliche Kulturen, Ethnien, Religionen und sogar Islam-Varianten. Religiöse Extremisten sind eine winzige Minderheit und vieles von dem, was „wir“ mit Recht kritisch beäugen ist nicht „islamisch“, sondern Ergebnis von Tradition, ländlicher Herkunft, Bildungsmängeln und Ausgrenzung (ich denke da an manch ältere türkische oder arabische Frauen, die nur zuhause sind, nichts mit sich anzufangen wissen als zu kochen und zu essen, noch immer kaum deutsch können und die totale Krise bekommen, wenn die Kinder aus dem Haus sind).
Hier in DE und speziell in Berlin empfinde ich entgegen deiner Unterstellung KEIN solches Unbehagen – es gibt keinen Grund dafür. Hier finden religiöse Rituale und Traditionen in Kirchen und kirchlichen Einrichtungen statt, nicht in staatlichen Institutionen – In Schulen gibt es einen verpflichtenden Ethikunterricht, Religion kann daneben freiweillig gewählt werden (evangelisch, katholisch, jüdisch, an 35 Schulen neuerdings auch islamisch).
All das finde ich gut so, denn nur so ist friedliches Miteinander unterschiedlich religiöser bzw. weltlicher Menschen machbar.
Mein Unbehagen bezieht sich derzeit eher auf das Schweigen der christlichen Kirchen zum Thema „radikal religiös“ versus Alltag. Bzw. zur „Buchgläubigkeit“ aus christlicher Sicht (in der Bibel stehen ja auch sehr üble Dinge…).
Gäbe es eine wirklich christliche „Leitkultur“, stünde im übrigen das Helfen im Vordergrund – und nicht die Ängste vor „Überfremdung“, die sich oft gar nicht am ureigenen Erleben entzünden, sondern Ausrdruck eigener Marginalisierungsängste sind.
Diese drohende Marginalisierung ist aber wahrlich nicht Schuld von Flüchtlingen und Migranten, denen es in ihren Herkunftsländern (und selbst bei uns noch oft) richtig dreckig geht, sondern Ergebnis des hypertrophierten Finanzkapitalismus, der sich seit dem Fall der Mauer (=Wegfall der „Alternative“) entwickelt hat und dessen zunehmende Schäden immer offenkundiger werden.
Einen schönen Sonntag wünsch ich!
Den wünsch ich Dir auch, liebe Claudia. Danke für Deine ausführliche Darlegung.
Ich komme darauf zurück.
Liebe Claudia,
hier noch ein paar Gedanken von mir zu Deinem letzten Kommentar:
Die Dinge vor Ort diskutieren
finde ich eine sehr gute Sache. Und ich gebe Dir völlig recht, dass – glücklicherweise – unsere Privatdebatte hier (liest sonst eigentlich jemand zu?) manchen Menschen mit praktischen unverkrampften Erfahrungen ziemlich „spanisch“ vorkommt.
Ich störe mich überhaupt nicht an individuellen Anpassungen, an im Dialog gefundenen Kompromissen – aber ich störe mich sehr, wenn die Regeln für religiös motivierte Anliegen von Muslimen verändert werden, nachdem man diese Regeln „eben“ von religiösen Überbleibseln der christilichen Überlieferung befreit hat, und darauf auch noch stolz ist, warum auch immer. Ich sage: Wenn Religion in der staatlichen Gestaltung der Gesellschaft schon keine Rolle spielen soll – dann gilt das für alle Anliegen aller Religionen.
Bei Kleinigkeiten grosszügig sein
Einverstanden. Nur ist es so eine Sache mit den Kleinigkeiten. Mit gleicher Sichtweise könnte man die Klage über Schweinefleisch im Schulessen als Geschrei abtun und genau dies als anmassend empfinden. Kommt dazu, dass diese Debatte auf muslimischer Seite ja dann auch jeweils von – logisch – religiös sehr motivierten Vertretern der Migranten geführt werden – welche einen „Erfolg“ dann wieder zugunsten ihrer Positon in der Gemeinschaft nützen. Interessant ist auch, dass – auch in unserer Diskussion hier – sich die Positionen relativieren. Erst redest Du nur davon, dass es doch kein Problem sei, auf Schweinefleisch zu verzichten – und später kommt der Kompromiss, doch besser ein fleischloses Gericht partout mit anzubieten, das dann auch Vegetariern zugute kommt. Es ist dies im Kleinen das, was ich generell moniere: Wir denken zuwenig nach, ändern das Angebot auf Widerstand hin, ohne gleichzeitig den Impuls zu setzen, BEIDE Kulturen mit einander zu vereinen.
Deine Sichtweise kann man übrigens auch umkehren: Wer bereits beim Schweinefleisch einen Aufstand macht, der ist erst recht nicht bereit, bei Basics eine andere als seine eigene gottesfürchtige Haltung zu akzeptieren. Und ich glaube, das ist auch die üblichere Denkweise.
Und: Dein Recht, Hosen zu tragen, hast Du Dir sehr wohl generell erstritten und gesichert haben wollen, auch wenn es Dir in Deinem privaten Umfeld ohne Probleme möglich gewesen wäre. Es geht doch um die generelle Aussagekraft einer Maxime der Gleichberechtigung, und ihr könnt doch nicht so tun, als wenn Frauen aller Religionen nicht davon profitieren sollten, dass sie bei uns grundsätzlich die öffentliche politische Position in diesem Anrecht schützt.
Die Einschätzung, wie stark fundamentale religiöse Strömungen in einer Ethnie Einfluss nehmen können, oder wie latent dieser Einfluss droht, lässt sich für lokale Verhältnisse wie für ein ganzes Land sehr schwer wirklich diagnostizieren.
Ich halte mich da an ein paar Grundbeobachtungen – und an Signale aus vielen muslimischen Gemeinschaften selbst: Diese Signale sagen sehr wohl, dass sich grosse Teile der Muslime einen Staat wünscht, der ernst macht mit seinem Anspruch, innerhalb seines Wirkungsbereichs nichts anderes gelten zu lassen als die humanitären weltlichen Werte der Gleichberechtigung, der Menschenrechte, schlicht unserer Demokratie – inklusive aller Prämissen, welche eine Mitwirkung aller Einwohner voraus setzen. Und es ist nun mal eine Tatsache, dass der Islam diese Trennung von Kirche und Staat, die Dir so wichtig ist, nicht kennt. Und darin liegt die latente Gefahr, dass in einer an Religiösität zunehmenden muslimischen Gemeinschaft die Autorität der staatlichen Regeln, gemacht von westlichem oder gar christlichem Ideengut, an Akzpetanz verlieren.
Ich will nichts anderes, als dass wir die Trennung von Kirche und Staat gegenüber allen Religionen durchsetzen – und die Annahme der Prinzipien unseres Rechtsstaates einfordern. Von uns allen.
Und noch ein Wort zu Deiner Wahrnehmung der Position christlicher Autoritäten. Ich bin nicht Katholik, aber wenn es einen Kirchenmann gibt, der sich um den Ausgleich zwischen den Religionen bemüht, dann darf man Franziskus sehr wohl als Beispiel nehmen. Muslimische Obere von Verbänden oder Glaubensrichtungen tun sich doch mindestens so schwer wenn nicht viel schwerer, Zeichen des Augleichs und der Toleranz auszusenden.
Und die christliche Leitkultur des Helfens äussert sich doch in zahllosen Gemeinden in der täglichen Arbeit und im sehr wohl sehr oft sehr menschlichen Umgang mit Flüchtlingen. Hier wie überall und in allen Fraktionen bestimmt am Ende unsere ganz persönliche Menschlichkeit unseren Umgang mit allen Menschen – auch den scheinbar Fremden.
Ich will mich dieser schönen Aufgabe einfach in einem Gefüge widmen, das meine Werte spiegelt.
Wie Du weisst, bin ich Christ, aber einer, der hundertprozentig den weltlichen Staat bejaht und damit die Trennung von Kirche und Staat. Es kann nur nicht sein, dass dieser Staat Regeln zugunsten einer fremden Religion ändert. Gerade mit dieser Prämisse fällt es auch unserem Bildungswesen viel einfacher, unsere Kinder so zu schulen, dass darin das Verständnis aller Religionen – aber auch die vereinenden Gleicheit in einem Staatsgefüge gelehrt werden kann:
Es ist ein Unterschied, ob ich betone, dass ich wegen meinem Glauben oder meiner Überzeugung als Muslim kein Schweinefleisch esse oder als Vegetarier kein Fleisch, oder ob ich mich damit von Ungläubigen absetzen will oder mich von Tiermördern distanziere – die Militanz hat in jedem Fall nichts in unserem Miteinander verloren.
„Und eine Doku über “jüdisches Leben in Deutschland” zeigte kürzlich einen Rabbi, der freundlichst zu begründen versuchte, warum orthodoxe Juden Frauen nicht die Hand geben…“
Nicht nur das – orthodoxe Jüdinnen müssen auch ihre Haare bedecken, und viele der betroffenen Frauen tun dies mit Kopftüchern.
Hallo Mia
Ja. Die Debatte soll sich auch nicht einfach an den Muslimen entzünden und dabei stehen bleiben.
Mit allen streng gläubigen Religionen ergeben sich ähnliche Fragen. Und die Krux der gebotenen, geforderten oder unter Umständen eben unbotmässigen Toleranz, weil sie die Freiheit betroffener Personen tatsächlich einschränkt oder es ihnen unmöglich macht, sich zu emanzipieren, gilt für Frauen und Männer aller Religionen.
Dieses Gespräch ist ungemein inspirierend, weil ehrlich und tiefer gehend – und geduldig geführt, unter Verzicht auf schnelles „Abschreiben“ des Gegenüber wg. widerborstiger Meinung! Danke dafür!
„liest sonst eigentlich jemand zu?“
Vielleicht funktioniert das grade nur so gut, weil wir gefühlt eine „Privatdebatte“ führen… noch denke ich auch eher an meine möglichen Antworten als an die Verbreitung des Links auf das „gute Gespräch zum brisanten Thema“.
Heut Nacht komm‘ ich aber nicht mehr dazu… 🙂
Ich bin froh um Deine Einschätzung – ich fragte mich heute nämlich gerade, ob ich wieder mal dazu neige, rhetorische Keulen zu schleudern. Schön, wenn du es nicht so empfindest.
Wir kennen uns ja. Das hilft manchmal auch.
Schlaf gut!
Evtl. nehme ich einige Aspekte dieses Themas in einem eigenen Blogartikel auf und verweise dann auf dieses Gespräch – lange Debatten sind ja gar nicht dein Stil hier! Da komm ich mir glatt komisch vor, wenn ich wieder mit einem langen Text antworte…
Grade ist mir auch der gestrige „Pegida-Tag“ mit all seinen Ereignissen und Reaktionen sehr präsent – ein bisschen Abstand tut da immer gut, zudem versacke ich grad wieder in viel Arbeit!
Sei herzlich gegrüßt!
Oh, ich bin gerade dabei, meinen Stil zu ändern, und Du hilfst mir dabei. *smile
Selbstverständlich kannst Du die Inputs hier in einem eigenen Blogartikel verarbeiten.
Ob ich allerdings dann da gross zum Kommentieren komme, weiss ich noch nicht zu sagen, aber Du willst ja die Diskussion eh verbreitern.
Pingback: Statt Wut, Angst oder Flucht in die Handarbeit – ja was? › Digital Diary - Vom Sinn des Lebens zum Buchstabenglück
Entscheidend meine ich, ist der Wunsch und der Wille zum Konsens, der in den überwiegenden Fällen wohl auch nur mit der Bereitschaft zu Kompromissen möglich ist. Das dabei um die einzelnen Positionen gerungen wird, liegt in dessen Wesen. Am Ende jedes gelösten Konflikts steht der Frieden, mit allen Ecken und Kanten. Der Wunsch danach, spricht tief aus den Kommentaren der beiden Diskutanten.
Nur so geht es, meine ich.
Danke Menachem – und der Frieden ist uns möglich, weil wir in letzter Konsequenz BEIDE finden, dass Religion Privatsache ist. In Vielem haben wir uns einfach damit auseinander zu setzen, dass der Islam, so, wie er heute auch hier gelebt wird, viel mit der Religion des Christentums vor sechzig Jahren zu tun hat. Das ist nicht abwertend gemeint, sondern eine Feststellung. Wir haben mindestens so viel Zeit dafür gebraucht. Das Problem ist nur: Wir leben jetzt und hier in unserer Zeit – und ohne das Akzept, dass jede Religion Privatsache hat und sie gegenüber dem gesellschaftlichen und öffentlichen Leben im Zweifelsfall zurück zu stehen hat, geht es nicht.