Wie eine Gesellschaft mit ihren Kindern und damit den Müttern umgeht, lässt erkennen, wie wohlhabend, wie arm, wie moralisch oder verantwortlich sie ist oder sich gibt. Und die Art und Weise, wie wir als Einzelne wie als Teil dieser Gesellschaft mit eigenen Kinderwünschen und mit der Art, wie wir uns diesen Wunsch zu optimieren versuchen, umgehen, zeichnet das Spiegelbild unserer Demut oder unseren Hochmut für das Leben. Die Babyklappe der Spitäler für umgekehrt Jene, die weit vom Wünschen entfernt und viel zu nah am Elend sind, und unsere Reaktion darauf, ist Teil dieses Bildes.
Als in der Schweiz und Deutschland die ersten Berichte über Babyklappen in Spitälern erschienen, machte ich grosse Augen. Das Thema schien weit weg zu sein, eine solche „Lösung“ jenseits aller Vorstellung, der Ort Schweiz oder Deutschland das pure Gegenargument für einen solchen Schritt. Doch nicht in Ländern wie den unsren, in denen es so viele andere Möglichkeiten gibt!
Aber wie kann sich irgend jemand dazu aufschwingen, zu beurteilen, wie verantwortungslos oder eben wirklich ausweglos sich eine Mutter fühlt, welche die anonyme Abgabe eines Neugeborenen in einer Institution wie einem Spital vornimmt? Wir machen uns zum Anwalt eines schutzlosen Lebens und zum Ankläger einer bedrängten Mutter, die in ihrer Not längst selbst die grösste Strafe erleidet. Und ein jeder von uns wertet gleichzeitig verschiedene Lebewesen verschieden schützenswert ein. Niemand von uns reagiert auf bedrohtes neues Leben in jedem Fall gleich, nicht mal dann, wenn es um Menschlein geht. Was welchen Reflex bei uns auslöst hat mit Rationalität sehr wenig zu tun, mit unserem unbewussten Umgang mit der Not um uns herum aber sehr viel. Wir schauen alle gerne weg, und so Vieles, über das wir so gerne diskutieren, würden wir als eigene Verantwortung absolut scheuen.
Wir reklamieren gerne die Inanspruchnahme von Institutionen. „Es ist doch für alles gesorgt“. Doch mehr als – auch noch unwillige – Steuerzahler sind wir in der Frage nach Lösungen nicht.
Es bedeutet eine ganz spezielle Art Not, in einer „hoch entwickelten“ Gesellschaft, worunter wir eine mit breitem Wohlstand verstehen, in einer Situation zu stecken, in der eine Mutter keinen Ausweg für ihr eigenes Kind sieht, keine ausreichende Hilfe ausmachen oder nicht mal darum bitten kann.
Es ist daher keine Schande für unsere Gesellschaft, die Babyklappe zu kennen. Es ist ein Stück Realismus: Auch unsere Welt, in gewissem Sinne gerade unsere, ist nicht so, dass Zwischenmenschlichkeit solche Einrichtungen unnötig machen würde. Und wir genügen als Mikrogesellschaft in vielen Momenten und Lebenssituationen dem an sich selbstverständlichen Beistands-Anspruch nicht, den das schutzlose Leben doch hat, sobald wir politisch-empört oder moralisch-verlogen diskutieren.
Wie unbeschreiblich alt die Not der Mütter ist und wie tief sie gehen kann, damals wie heute, macht ein Blick zurück deutlich: New York um 1860. Die Zahl ausgesetzter Säuglinge steigt stark an und die Kindsmorde nehmen besorgniserregend zu. Schwester Irene Fitzgibbon gründet nach einer Spendenaktion das Findelhaus The Foundling Asylum in Greenwich Village, das ungewollte Säuglinge der Stadt aufnimmt. Es öffnet 1869 mit einer weissen Wiege auf der Türschwelle. Allein in den ersten zwei Jahren wurden … 2500 Kinder aufgenommen. Häufig lagen den Babys Briefe der Mütter bei (Quelle a.E. des Textes).
Damals wie heute sollte eines in der Diskussion zu diesem Thema, in jeder Diskussion über Mütter und ihre ungeschützten Kinder vorherrschen: Der Respekt für die Not der Mütter.
Und jeder Lösungsansatz, der das Leben schützt, der Mutter aber mehr lässt als die Verachtung der Gesellschaft, ist zu begrüssen. Mit der Babyklappe muss also einher gehen, dass wir anerkennen, dass es Not ohne Ausweg gibt – und dass dies auch immer eine subjektive Empfindung ist, eine Verstrickung sein kann, aus der sich die einzelne Person in ihrer Einsamkeit nicht befreien kann. Indem wir – in ganz anderen Zeiten als damals in New York – der gleichen Idee Raum geben, schaffen wir eine Notlösung, die das eine oder andere Leben rettet und für Mütter die Erfüllung ihres selbst empfundenen minimalsten Auftrags bedeuten kann: Das geborene Leben zu schützen. Selbst durch Weggabe. Dass das Minimale das Maximale sein kann, ist Drama genug. Auch heute. Und niemand hindert uns daran, alles dafür zu tun, dass diese Babyklappen leer bleiben.
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Streitobjekt Babyklappe in der Weltwoche 2012/10
Dritte Babyklappe öffnet in Olten – SRF Mai 2013
Buchempfehlung: Letters of Note, Wilhelm Heyne Verlag München, 2014,
ISBN 978-3-453-26955-2, Letter Nr. 22 – Ich flehe Sie an, nehmen Sie mein Kind auf
Bis es zum Abgeben in einer Babyklappe kommt, hat das Baby die ganze Not der Mutter schon internalisiert. Das ist es, was mich bekümmert.