Mit Schweden und der Schweiz treffen zwei Länder im Achtelfinal der Fussballweltmeisterschaft aufeinander, die „traditionell“ viele Immigranten in der Bevölkerung haben. Interessant, wie unterschiedlich sich diesbezüglich die Nationalmannschaften der beiden Länder präsentieren. Und wie ähnlich sie sich doch in ihrer Solidarität sind.
Beide Mannschaften bereiten sich auf das Match vor, nachdem sie gerade als Gruppe Anfechtungen gemeistert haben, die direkten Bezug zur Herkunft einzelner Spieler haben. Der schwedische Verteidiger Jimmy Durmaz beging das Foul, welches zum Freistoss führte, mit dem Deutschland das Spiel gegen Schweden in letzter Sekunde gewann. Die Hasskommentare, Beleidigungen und gezielten konkreten Bedrohungen, welche Durmaz anschliessend über die Social Media Kanäle von schwedischen „Fans“ erhielt, veranlassten ihn zu einer öffentlichen Erklärung, in der er sich mit der ganzen Mannschaft im Rücken als Schwede mit türkischem Migrationshintergrund gegen den Rassismus wehrte.
Ging es für Durmaz und seine Kollegen darum, sich in einem hauptsächlich aus Schweden ohne Immigrationshintergrund zusammengesetzten Team als stolzer schwedischer Fussballer zu bezeichnen, so sind die Identifikationsprobleme für viele Schweizer Mannschaftsmitglieder andere. Ihre Eltern sind teilweise noch traumatisiert von den früheren Ereignissen in Ex-Jugoslawien, und obwohl aufgewachsen in der Schweiz und für dieses Land mit allem Engagement schon viele Jahre erfolgreich Fussball spielend, sehen sie sich in ihrem Umfeld immer und immer wieder mit ganz unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert – und mit Emotionen, die wir, die wir behütet in unserem eigenen Land lebend und aufwachsend, gar nicht richtig nachvollziehen können.
Während in Schweden bei der Selektion der Nationalmannschaften sehr früh sehr stark auf die Homogenität der Gruppe geachtet und entsprechend selektioniert wird, herrscht in der Schweiz das Leistungsprinzip vor – ungeachtet des Migrationshintergrunds. Das lässt sich zwar nicht beweisen, aber ahnen, angesichts der Unterschiede, welche die beiden Kader aufweisen. Das führt dazu, dass in der Schweizer Förderung sich viele junge Menschen sehr früh entscheiden müssen, für welches Land sie denn nun Fussball spielen wollen? Für das Land ihrer Eltern, ihre ethnischen Wurzeln, getreu den Erwartungen vieler Verwandter, oder für das Land, in dem sie aufgewachsen, sozialisiert worden sind – und die Ausbildung genossen haben? Diese Entscheidung ist nur vordergründig leicht – und nicht nur in der Gesellschaft wurde das heiss diskutiert, auch die Mannschaft hat einen Prozess hinter sich, seit vor Jahren ihr Captain, der waschechte Schweizer Lichtsteiner selber die Debatte lancierte, welche Identifikationsmerkmale denn ein Schweizer Nationalspieler mitbringen müsse, um für die Schweiz spielen zu können?
Das Kader der Schweiz überzeichnet sogar noch die gesellschaftlichen Realitäten im Land, so viel Migration – teilweise über Generationen zurück zu verfolgen – ist im Kader vorhanden. Kunststück – Fussball ist für manche Migranten noch viel stärker die Möglichkeit für den sozialen Aufstieg, als dies für uns behütete Schweizer der Fall sein mag. Die Mannschaft hat die Diskussion in der Gruppe geführt – und sich über die Jahre zu einer Geimeinschaft gemausert, die einen grossen Zusammenhalt aufweist. So hat sich ausgerechnet Lichtsteiner zu seinen albanisch stämmigen Teamkollegen Shaqiri und Xhaka gestellt und den Doppeladler als Zeichen nach dem Torjubel geformt. Die Aktion als ganzes mag dämlich gewesen sein, aber Lichtsteiner hat in der Reflexion danach – und in der Vorbereitung auf das nächste Match wichtige Aussagen gemacht:
Wenn Du nicht Deinen Kollegen, Freunden oder Verwandten hilfst – wem hilfst Du dann? Der Vorgang hat uns gelehrt, dass die Wahrheit im Mikrokosmos, im Zusammenleben mit Deinen Nächsten, mit Kollegen, eine andere ist als jede gesellschaftlich hoch gehängte Diskussion. Lichtsteiner hat als Grund für seine Aktion die Solidarität angeführt, als ein Schweizer Merkmal, das die Schweiz auszeichnet: Solidarität mit Gruppenmitgliedern, welche sich täglich mit ihrem Einsatz für die Gruppe engagieren, für die Schweizer Nationalmannschaft. Er meint: Wir erwarten von den Migranten Integrationswillen – wir schulden ihnen aber auch „Verständniswillen“ und ja, Solidarität. Was nur dann möglich ist, wenn wir besser verstehen können, was sie umtreibt.
Im Fussball, das zeigt sich gerade wieder sehr schön in Russland an der WM, gewinnen nicht die besten Fussballer, sondern das Team mit der grössten Solidarität. Schweden wie die Schweiz haben diese Solidarität als Gruppe bewiesen. Aber es wird nur ein Team gewinnen können. „Die Schweden“ oder „die Schweizer“, und jene, welche im jeweiligen Land nicht zu blöd dafür sind, werden sich mit freuen – als Schweden oder Schweizer.
Ach ja: Rakitic hat heute für Kroatien den entscheidenden Penalty erfolgreich im Tor untergebracht. Er ist „Schweizer“ und ist wie Shaqiri und Xhaka beim FC Basel gross geworden. Er allerdings hat sich für das Heimatland seiner Eltern entschieden und spielt heute für Kroatien. Seinerzeit habe ich mich erst furchtbar darüber geärgert, denn es war klar, dass dieser Kerl eine Weltkarriere machen würde. Heute freue ich mich mit ihm und drücke Kroatien die Daumen – ausser, wenn sie gegen die Schweiz spielen müssen. So kann es gehen, und so ist es doch schön, oder? Ach, dies noch: Kroatien? Der Schweizer Trainer heisst Petkovic. Und ist Kroate. Er hat im Rahmen seiner eigenen Integrationsmitarbeit unter anderem in der Schweiz mit Asylanten in sozialen Projekten zusammen gearbeitet. Ist Fussball nicht einfach eine tolle Möglichkeit, Grenzen abzubauen – und – eben – zum Beispiel Solidarität zu üben? Es fühlt sich tatsächlich grossartig an, wenn es gelingt. Das weiss auch Jimmy Durmaz.
Dienstag, 3. Juli 2018 16h00: WM-Achtelfinale Schweden vs. Schweiz