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04.Oktober 2020, 9:00

Die eine Mauer ist gefallen

Wir leben in unruhigen, stürmischen Zeiten, spüren sehr viel mehr Unsicherheit und Hader unter einander. Bündnisse zwischen Ländern scheinen nicht mehr verlässlich. Wir machen Bedrohungen aus und erleben, dass wirtschaftliche Macht nicht dazu neigt, Ausgleich zu schaffen, sondern Gewinne zu optimieren. Heute ist nicht mehr so sehr die Frage, welches politsiche System erfolgreich ist – sondern wie Zufriedenheit und Auskommen für möglichst Alle erreichbar ist – oder wenigstens erreichbar bleibt, und dabei fühlen wir uns wohl in genau diesem Bestreben gefährdeter als die Generation unserer Eltern. Doch gerade heute lohnt sich ein Blick zurück, weil gestärktes Bewusstsein für eine fast unglaubliche Wendung der Geschichte auch Mut für die Zukunft machen kann.

Der 3. Oktober ist der Tag der deutschen Einheit. Was 1989 mit dem Mauerfall und 1990 mit dem Einigungsvertrag erreicht wurde, ist einmalig. Die Mauer, die so viele Tote gefordert hat, wurde ohne Blutvergiessen überwunden. Das Volk hat die Vereinigung und Zusammenführung gewollt, und schliesslich wurde dem Willen der Bürger entsprochen. Es hat besondere Politiker gebraucht, welche zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Sagen hatten – und Menschenwürde und ein tieferes Verstehen über Unrecht, das nicht länger aufrecht zu erhalten war, hat es möglich gemacht, dass eine Umwälzung sondergleichen friedlich eingeleitet werden konnte. Dazu hat es Menschen gebraucht, die nicht im Bewusstsein, Sieger oder Verlierer zu sein, behaftet blieben, sondern auch ein wenig Demut mitbrachten, um dem positiven Lauf nicht im Weg zu stehen.

Mir steht aus der Schweiz kein Urteil zu über die Art, wie Deutschland mit diesem geschichtlichen Auftrag umgeht, aber ich versichere meinen deutschen Freunden gerne, dass mir das, was die Vereinigung Deutschlands möglich machte, immer eine Inspiration bleiben wird für alle Fragen, die sich uns stellen, wenn wir über unsere Gegenwart und Zukunft als Bürger eines Gemeinwesens befinden und dafür auch handeln müssen – und verstehen wollen, warum das Gegenüber andere Meinungen und vielleicht auch Ängste hat. Es ist klar und deutlich, dass die Vereinigung auch heute Sieger und Verlierer kennt, die heute längst nicht mehr der gleichen Linie entlang laufen wie damals, als die Mauer fiel. Noch immer liegt viel Arbeit vor meinen deutschen Bekannten, werden aktuelle politische Fragen auch immer wieder offenlegen, dass manche Optik in West- und Osterfahrungen verwurzelt bleibt. Aber die Strahlkraft der Ereignisse von 1989 und 1990 ist nicht erloschen. Wir können sie uns immer wieder vergegenwärtigen, und wenn wir die Gesichter der Menschen sehen, die inmitten dieser Umwälzung einfach nur überwältigt waren, dann wissen wir in jedem Fall Eines: Es lohnt sich in jedem menschlichen Konflikt, eine Lösung zu suchen, die keine Verlierer zurück lässt. Kein politischer Prozess, der Gewinner erzeugt, sollte damit aufhören. Demokratie bedeutet vielmehr, dass der Gewinner einer Debatte nie vegisst, was das Anliegen der Unterlegenen war und wie ernst es weiter zu nehmen ist. Wer recht hat, entscheidet nicht die Debatte, noch nicht mal die Abstimmung, sondern nur die Umsetzung, das konkrete Ergebnis, die Praxis, das Resultat. Und das sollte so anzustreben sein, dass das Leben für alle besser wird. Oder alle anpacken können und wollen, wenn es härter wird. Wenn wir Freiheit wollen, hörts sie bei der Unfreiheit des Nächsten auf. Unsere Lebensart hinterlässt Spuren. Sie müssen verträglicher werden für unsere Nächsten und unsere Umwelt. Die Mauer ist eingerissen. Die Eine. Viele andere stehen noch. Doch sie können gar nicht so zementiert sein, dass sie ewig stehen. Das ist eine gute Nachricht. Keine, die Angst machen sollte.

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