Ich bin in diesem Text bewusst und noch mehr als sonst persönlich. Dies einfach deshalb, weil ich feststelle, dass eine objektive Diskussion der Pandemie zur Zeit kaum mehr möglich ist. Und weil ich immer wieder erfahre, dass wir urteilen, ohne Hintergründe zu kennen. Und auch dabei meine ich persönliche. Umstände und- eben – auch Gedanken.
Der Graben in unserer Gesellschaft hat sich aufgetan. Haben wir über die Einschätzungen zu Corona noch so was wie diskutiert, so ist das bei der Kontroverse um die Impfung scheinbar nicht mehr möglich. Der besagte Graben zwischen Geimpften und Ungeimpften verläuft teilweise mitten durch Familien, Freundschaften, Vereine. Und es scheint nurmehr zwei Kategorien zu geben: Die Geimpften sind die Solidarischen – die Ungeimpften die Schmarotzer.
Die Frage des richtigen Verhaltens zum Wohl der Gesellschaft hat sich auf zwei Pieks reduziert. Dabei müssten wir uns doch alle, mit oder ohne Pieks, nach wie vor fragen lassen, wie wir es denn halten in unserem Alltag mit den Anpassungen an die scheinbar so evident bedrohliche Lage?
Wie Viele von uns sind gepiekst aufgebrochen in die Ferien, in den Süden, den Osten, haben Verwandte besucht oder Freunde, haben Dolce Vita genossen, endlich ein wenig Normalität, haben gefeiert und uns gefreut über die laschen Kontrollen oder gar keine, sind mit dem Auto mehrmals über die Grenzen gefahren, ohne je den ominösen Fackel vorzeigen zu müssen. Alles nicht so schlimm oder praktisch überstanden – und jetzt?
Die Empörung über die Ungeimpften ist gross, und diese sehen sich verallgemeinert als Querschläger und Querulanten, Schwurbler und ewig gestrige Globuliphantasten gebrandmarkt. Angesichts der Tatsache, dass das Virus von Allen mit oder ohne Pieks weiter gegeben werden kann, fragt niemand danach, wer denn wie viele Sozialkontakte hat und sich, ungeimpft, womöglich aus freien Stücken schon ein gutes Stück weit defensiver in der Anzahl seiner Begegnungen verhält als seine Mitmenschen. Bin ich, ungeimpft, mit durchschnittlich vielleicht fünf bis zehn Sozialkontakten pro Woche und einem Restaurantbesuch alle vierzehn Tage das grössere Risiko für eine Ansteckung als jemand Geimpfter mit hunderten davon (in entsprechenden Berufen oder dem häufigen Aufenthalt in geschlossenen Räumen) und einem Clubbesuch pro Monat?
Ich kann mit den Einschränkungen für den Besuch von Massenveranstaltungen leben. Womit ich nicht (gut) leben kann, ist mit der Tatsache, dass der Eingriff in meine körperliche Integrität staatlich verordnet werden soll – für einen Vorgang, über dessen Risiken für mögliche Langzeitfolgen niemand wirklich schon Bescheid wissen kann. Die Gesellschaft trifft mit Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung und ihrem vorläufigen Erkenntnisstand einfach eine Risikoabwägung – die nicht meine eigene sein muss. Ich erwarte Euren Respekt für das Risiko, das ich selber zu tragen bereit bin. Dass sich die meisten von Euch haben impfen lassen, um sich vor der Krankheit zu schützen, kann ich verstehen. Auch verstehe ich, dass viele sich impfen lassen, weil sie beruflich viel reisen müssen und es ansonsten furchtbar mühsam ist. Gleichzeitig ist mir unwohl, dass die Abwägung, ob man die Impfung will oder nicht, für manche von uns mit sehr viel mehr im Alltag entstehendem Druck verbunden ist als für andere. Denn, nochmals, es ist eine höchst persönliche Entscheidung.
Nun bin ich also für Euch noch immer ein Risiko. Ich kann Euch trotzdem mit Covid anstecken, auch wenn Ihr weniger schwer krank werdet, und ich kann von Euch angesteckt werden und die Ansteckung weiter geben. Vor allem aber bin ich bin ein Kostenfaktor und ein möglicher Spitalengpassverursacher zu Lasten moralisch integrerer Patienten. Denn wenn ich, trotz sehr selektiver Kontakte mit Corona angesteckt werde, früher oder später, egal in welcher Welle, kann es sein, dass ich ein Spitalbett belege. Die Chance, dass ich die Krankheit überstehe, ohne auch nur in die Nähe eines Spitals zu müssen, ist zwar viel höher, aber tatsächlich kann ich es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschliessen. Dass ich in keinem Fall intubiert werden will und daher wegen Covid kaum je ein Intensivbett belegen würde, beeinflusst hier nur meine persönliche Ratlosigkeit angesichts der bedingungslosen Bereitschaft, für ein Überleben egal welcher Qualität einfach alles vorgekehrt bekommen zu wollen. Aber diese meine Haltung müsst Ihr mir ja nicht glauben, denn ich muss sie gerade glücklicherweise ja nicht beweisen.
Entgegen anderer Berichte, die ich in diesen Wochen vermehrt lesen kann, glaube ich nicht daran, dass ich als Patient auf Ressentiments der Pflegenden stossen würde. Pflegefachkräfte, die ihren Beruf mit dem Gedanken ausüben, dass der Mensch, der vor ihnen liegt, im Grunde selbst schuld an seiner Lage ist, haben den inneren Spirit ihrer Berufung eingebüsst und müssen den Beruf schnellstens wechseln – und niemand von uns muss Angst vor einer solchen Haltung haben – ganz egal, welche Art von Risiko wir selbst zu verantworten haben, wenn wir sterbenskrank werden. Würden wir diese Grenze wirklich überschreiten und diese Art von Bewertungen vornehmen, so haben wir als humanitäre Wesen wie als Gesellschaft endgültig die Empathie verloren. Was es bedeuten würde, diese Folgen zu tragen, sollte niemand von uns unterschätzen. Die Raucher unter uns, zum Beispiel, können erahnen, welche Dynamik das annehmen kann, denn sie haben in den letzten Jahrzehnten erlebt, wie der Wind drehen kann. Und auch dieser Wind könnte bis ins Spital weiter getragen werden…
Natürlich habe ich Wünsche, aber sie sind in der Weise wohl zu fromm, wie Fromm heute noch verstanden werden kann – nämlich unrealistisch:
Ich wünschte tatsächlich, dass die Pflegeberufe ernster genommen würden – mit verbesserten Löhnen, Arbeitszeitregelungen und explizit im Bereich der Auslastung der IPS (Intensivpflegestationen) mit Ausbildungsprogrammen, welche die Erkenntnisse der ersten Welle der Pandemie zum Anlass nehmen, mehr Personal zu schulen – wenn es getan wird, dann wird davon nicht berichtet, womöglich, um keine „falschen Signale“ zu senden. Und ich wünschte, die Optimierung der Auslastungen von IPS würden weniger unter wirtschaftlichem Druck stehen in Zeiten wie diesen, was dann zu mehr Überhang der Kapazitäten in ruhigeren Phasen führen würde – DAS wären Kostenfaktoren unseres Gesundheitswesens, die unsere Gesellschaft, bezeugt mit ihrem Verhalten, doch eindeutig zu tragen bereit wäre.
Und ich wünschte, die Berichterstattung über alle Aspekte von Covid in unserer Gesellschaft hätte weniger Filter vorgesetzt: Darf die Tatsache, dass ein Grossteil der Covidpatienten Migranten sind, erwähnt werden? Darf darüber berichtet werden, wie gross der Anteil der schweren Fälle unter den Menschen ist, die aus dem Balkan zurück gekehrt sind? Wir wären dann auch hier wieder bei der Empathie, die uns nicht mehr zugetraut wird: Empörung, Klassifizierung, Unruhe wird bei uns eher vermutet als der schlichte Versuch, dem Phänomen mit Aufklärung zu begegnen – und mit Massnahmen, die auch diese Menschen besser schützen.
Womit noch festzustellen bleibt, dass auch und gerade in dieser Pandemie nicht Geimpfte oder Ungeimpfte wirklich die Arschkarte gezogen haben, sondern die wirtschaftlich schlechter gestellten Menschen, die von Lockdowns, Homeschooling und Covid-Gesundheitsrisiken viel negativer betroffen sind als der Durchschnitt all jener, die diese Zeilen lesen. Und da wäre es vielleicht angebracht, sich auch nochmals die Frage zu stellen, ob es uns nicht zu denken geben müsste, dass die in unserer Gesellschaft mittlerweile komplett fehlende Resilienz gegenüber jeder Art von Bedrohung des Lebens um so heftiger auf die Schwächeren zurückfällt. Denn unsere Massnahmen bedingen Wohlstand – dazu passt, dass auch heute auf tausend Stimmen in unserer Presse, welche sich Gedanken über die Verbesserung unserer Impfquote machen, vielleicht eine kommt, welche die Scheinheiligkeit unseres Rufs nach Solidarität brandmarkt angesichts der Tatsache, dass unsere Thematik an der Landesgrenze aufhört und wir bestens damit leben können, dass Impfstoffe woanders dringend gebraucht würden. Denn wenn wir so dringend Impfung wünschen, müsste sie doch Allen zustehen, nicht wahr?
Was ich wrklich nicht verstehen kann: Es gibt mittlerweile hunderte Millionen Geimpfte, deren Daten eine gute wissenschaftliche Basis zur Kalkulation des Risikos irgendwelcher schwerwiegender Nebenwirkungen geben. Und nach allem, was die Studien dazu hergeben, ist das Risiko einer Covid-Erkrankung massiv größer als dasjenige der eher seltenen schweren Nebenwirkungen. Zudem gehörst du doch als Älterer zur Risikogruppe für einen schweren Verlauf.
Dass du im Fall des Falles nicht beatmet werden willst, glaube ich nicht, auch wenn du das jetzt selber von dir glaubst. Wenn stündlich die Luftnot zunimmt, denkt man um! Da ist dann doch das Bedürfnis zu atmen und zu überleben größer. Die meisten Corona-Toten sollen übrigens gestorben sein, weil sie es nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus schafften, so kürzlich ein Arzt einer Intensivstation.
Ich wünsch dir, dass es dich nicht erwischt!
Liebe Claudia
Die rein statistische Gegenüberstellung von Risiken einer Covid-Erkrankung gegenüber möglichen Impf-Nebenwirkungen oder Langzeitschäden verhindert nicht, dass im konkreten persönlichen Fall die Einschätzung und das Gefühl ein anderes ist (und dass man auch gegenüber der vielleicht grösseren und dennoch sehr geringen Gefahr von Covid gelassen bleibt). Und dieses Empfinden und der darauf folgende Entscheid ist persönlich, und es gibt sie eben sehr wohl, die Menschen, die es bereuen, dass sie sich impfen liessen, weil sie – jenseits aller Statistik – unter entsprechenden Folgen leiden. Du schreibst selbst von der „wissenschaftlichen Basis zur KALKULATION des Risikos schwerwiegender Nebenwirkungen“. Richtig: Es ist eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, die immer Unbekannte enthält, auch wenn sie je länger je zuverlässiger ausfallen mag. Erst recht gilt das für Langzeitwirkungen. Wie sich die Impfung z.B. auf die Fruchtbarkeit auswirkt, kann ja noch gar nicht empirisch erforscht sein – es kann auf Grund von Erfahrungswerten aus der Forschung abgeschätzt, aber weder angenommen noch ausgeschlossen werden. Die Tatsache, dass die Fruchtbarkeit der Männer in den letzten 50 Jahren um 40% abgenommen hat, ist keiner bekannten Impfung anzulasten – und auch keinen anderen Umwelteinflüssen – schlicht, weil es sich nicht beweisen lässt. Aber ganz eindeutig leben wir in Zeiten, in welchen unsere Lebensweise auf die natürlichen Ressourcen unserer Spezies einen eindeutig schädlichen Einfluss hat. Und unter diesem Grundeindruck ist sehr wohl auch eine Skepsis gegenüber einer Impfung erlaubt, die angesichts einer relativen Gefahr einer möglichen Ansteckung persönlich nicht beiseite gewischt wird. Wenn ich diese Entscheidung nach wie vor selber treffen will, so halte ich umgekehrt nochmals fest, dass die Art, wie ich lebe, sehr viel weniger Ansteckungsrisiken mit sich bringt als die Lebensweise mancher ungeimpfter (und geimpfter!) Mitbürger.
https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/kanton-zuerich-legt-auswertung-offen-diese-corona-patienten-mussten-auf-die-intensiv-id16829959.html
Die Fokussierung allein auf die Impfentscheidung stört mich sehr.
Natürlich hoffe ich, dass ich, dass wir Beide und alle Lesenden dieses Blogs gesund bleiben, und ich will auch dazu beitragen, indem ich mich im Alltag vernünftig verhalte.
Deine Aussage, dass Du mir nicht glauben magst, dass ich dann nicht nach einer Intubierung schreien würde, wenn die Luft knapp wird, nehme ich entgegen, aber wissen kannst Du das nicht. Gute Freunde, die mich entsprechend kennen, können wahrscheinlich eher einschätzen, wie ich es meine, denn sie wissen auch, was ich schon erlebt habe und wie sehr mich Gedanken zu Leben und Sterben schon sehr lange begleiten.
Dazu einfach noch diesen Gedanken:
Erstickungsnot ist Überlebenskampf. Das Überleben hat einen Preis. Der Kampf darum verursacht andere Schmerzen, und lässt die Pflege anders damit umgehen, als wenn ich signalisiere, dass ich einen Kampf nicht (mehr) kämpfen will.
Etwas ausführlicher: Werde ich per Maske mit Sauerstoff versorgt, lerne ich, den Sauerstoff „anzunehmen“ und die Entlastung meiner Lunge steht im Einklang mit meinen körperlichen Ressourcen. Werde ich intubiert, gibt es keine solche Regulierung mehr, mein Beitrag ist keiner, denn ich bin komatös und wache vielleicht wieder auf – in ganz sicher anderem Zustand, als ich mich zuvor kannte und muss das Atmen komplett wieder lernen. Meine Muskulatur ist extrem zurückgebildet. Ich lebe, aber wie? Das kann mir vor und nach der Intubation unter Umständen niemand voraussagen, aber klar ist, dass es lange schwer bleiben wird.
Ist der Kampf ohne Intubation aussichtslos, erlaubt die mehr palliativ verstandene Pflege ganz andere Prioritäten, die dieser hier thematisierten Not begegnen. Aber ja: Das bedingt, dass man sich gegen das Ende nicht um jeden Preis wehrt.
Die Aussage, die Du von einem Arzt einer Intensivstation rapportierst, kann ich nicht beurteilen. Ich habe Ähnliches noch nicht gehört. Hingegen scheint mir die Information relativ gut abgestützt, dass bis zu 50% der Intubierten Covid-Patienten die Intubation nicht überleben, und sie nicht nur in der ersten Welle oft zu früh vorgenommen wurde – und weiter wird:
https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/gefaehrliche-intubation-100.html