So viel in unserem Leben wird uns scheinbar hingeworfen, und während wir das Pech beklagen, sind wir uns des Glückes oft nicht bewusst. Wenn ich dann Erzählungen höre vom Aufwachsen von Kindern in fremden Ländern, sagt mir zwar mein Verstand, wie gut ich es doch getroffen habe, doch mein Herz berührt es nicht immer: Vielleicht zu oft gehört, zu oft gesehen? Was mich aber umhauen kann, sind Schilderungen vom Leben hier, bei uns, an meinem Platz – nur, sagen wir mal, eine Generation früher.
Wie war es schwer, das Thema Alzheimer zu benennen? Es war quälend schwierig, einen Angehörigen zu pflegen und die Contenance zu halten zwischen der Kaschierung der Verwirrung des Vaters oder der schieren Verzweiflung ob der Herausforderungen, welche die geistig abbauende Mutter an einen stellte. Alle überfordert, alle stigmatisiert, kein Verstehen zu erwarten, und Lösungen schon gar nicht.
Oder Autismus… Wie erklären und selbst verstehen, dass das Kind in einer eigenen Welt gefangen blieb, während wir von aussen aus es betrachten mit einer Mischung zwischen Faszination für bestimmte Auffassungsgaben und der Befremdung über die Blockade gegenüber jeder menschlichen Berührung… und dann legt eine Gesellschaft irgendwie den Schalter um, und scheinbar innert weniger Jahre gibt es plötzlich Kinofilme zum Thema Altersdemenz – und ganze populäre Serien, in denen Autisten eine markante Neben- oder sogar die Hauptrolle spielen. Und wo vorher Unwissen und Verdrängung oder einfach Nichtbeachtung war, eifern nun Hashtags in den asozialen Medien dem Phänomen nach, eifrig bemüht, etwas vom Trend mitzunehmen und Beachtung zu erhalten. Wie fragwürdig das auch sein mag, eindeutig kann man feststellen: Welch Laune des Schicksals, einen Angehörigen mit einer solchen Aufgabe zu versehen – und das nicht heute, sondern vor zwanzig Jahren. Wie bizarr muss es sein, als Betroffener zurück zu blicken und sich zu fragen, wie viel leichter es gewesen wäre, auch als Pflegende und Begleiter genügend Kraft zu haben, wäre betroffenen Menschen schon damals menschlicher und verständnisvoller begegnet worden.
Und während wir als Gesellschaft auf den Wogen der Launen von Beachtung oder Ignoranz oder gar Stigmatisierung dahin dümpeln, wünsche ich Menschen, die gerade jetzt und heute einen solchen Kampf im Grau unserer Missachtung führen, dass wir alle, wenn wir mit uns Fremdem konfrontiert werden, einfach mal mutmassen, dass das störende Etwas, das bei einem mir bekannten Menschen nicht „funktioniert“, mehr eine Herausforderung für mein Unwissen ist als eine Zumutung. Jedes Stigma ist von Menschen gemacht. Und damit grausam.