Ressort: Gesellschaft(Weitere Infos)

09.Mai 2022, 2:00

Ein Widerspruch, der nicht notwendig werden sollte

Die letzten zwei Jahre waren für uns alle sehr anstrengend, und es wird ja nicht wirklich leichter. Der Angriff Russlands auf die Ukraine wird uns noch lange beschäftigen. Doch ich möchte in diesem Text bei der Art von Grundsatzfragen und Rüttelungen bleiben, auf die wir mehr Einfluss haben und für die eine neue Entscheidung zu treffen ist: Nach der Debatte rund um die Impfpflicht und das deshalb einzuschränkende Recht der Verfügungsmacht über den eigenen Körper wird exakt diese Frage neu und noch viel einschneidender gestellt: Das sog. Widerspruchsmodell soll die Voraussetzungen für eine Organspende neu regeln.

Bis jetzt muss, wer seine Organe spenden will, diesen Willen deklariert haben, einen Organspenderausweis auf sich tragen oder sich in einem entsprechenden Verzeichnis registrieren lassen. Die Organspende setzt also den ausdrücklichen Willen des Spenders voraus und wird als altruistischer Akt eines Menschen gesehen, der eine höchst persönliche Entscheidung getreu seinem eigenen Verständnis von Leben und Tod trifft. Doch die Wenigsten haben diesen Schritt gemacht, ganz unabhängig von ihrer Überzeugung. Nun soll das Missverhältnis zwischen der Höhe der in der Befragung Spenderwilligen und den tatsächlich als Spender deklarierten Menschen korrigiert werden. Endlich scheint für die Politik nurmehr die Trägheit der Menschen das Problem zu sein, das die Medizin zu wenig Spenderorgane finden lässt, also will man das Prinzip umkehren und vom trägen Menschen grundsätzlich annehmen, dass er ein Organspender sei. Hier soll also zukünftig das Grundrecht der Verfügungsmacht über den eigenen Körper nur dann gelten, wenn der Patient auf diesem Freiheitsrecht explizit bestanden hat. Damit wird erstmals ein grundlegendes Freiheitsrecht zwar gewährt, aber nur, wenn es zuvor verlangt wurde. Der Anspruch auf das Grundrecht wird nicht angenommen, sondern der Verzicht darauf. Das ist eine entscheidende Umkehr in der Frage der Grundrechte, und niemand sollte glauben, dass das etwas anderes sein wird als nur ein Beginn. Man wird von unserem Einverständnis zu einem Vorgehen immer weiter und vermehrt ausgehen, und es damit begründen, dass es im Interesse der Gesellschaft sei. Und was das Interesse dieser Gesellschaft ist, bestimmt in der Demokratie – scheinbar – die Mehrheit. Doch selbst wenn dies so ist: Mehrheiten verändern, wandeln sich, und niemand kann sich wirklich wünschen, dass seine ihm wichtigsten und grundlegendsten Rechte davon abhängig sind, dass deren Aufrechterhaltung der Mehrheit wichtig sind.

Nicht wenige von uns haben in diesen letzten zwei Jahren erstmals am eigenen Leib erlebt, wie es ist, plötzlich am Rand zu stehen, ausgegrenzt zu werden und Etiketts und Einordnungen zu unterliegen, welche die Mehrheit den Lästigen zuordnet, denjenigen, welche die Ordnung stören, die definierte Normalität verhindern, wobei das Normale eben zunehmend ein Zustand ist, welchen die Mehrheit definiert – und dabei auch wandelt. Jenseits des Wunsches, in jedem Fall möglichst lange zu leben, sind uns nicht viele Werte geblieben, und dabei stellen wir auch immer seltener die Frage, was ein Leben denn lebenswert macht? Darauf kann man mir antworten, dass, wenn ich denn tatsächlich so eine andere Ansicht habe, ich es – halt eben – zu deklarieren habe. Also alles in Ordnung?

Wie ich lese, soll die Fraktion der Befürworter der Widerspruchslösung eine stabile Mehrheit haben. Es wundert mich nicht. Doch auch in diesem Fall bleibt am Schluss einfach noch die Feststellung: Noch ist meine Freiheit, es anders zu wollen, nicht unmöglich zu bewahren – aber die Welt, wie sie sich versteht, wird mir zunehmend fremd. Und ich bemerke an mir, dass ich mich zurückziehe, ich den Ausgleich und das Verständnis mit den mir Lieben suche, und die übrige Welt zu verstehen nicht mehr wichtig sein darf, denn ich reibe mich an ihr in einer Weise, die mich krank machen kann.

2 Gedanken zu „Ein Widerspruch, der nicht notwendig werden sollte

  1. ClaudiaBerlin

    „Noch ist meine Freiheit, es anders zu wollen, nicht unmöglich zu bewahren“ – immerhin! Das ist ja auch ein Hauptargument der Befürworter: Man kann sich dagegen aussprechen! (Ich hab schon lange einen „Nicht-Spender-Ausweis“).

    Dein letzter Satz spricht mir aus der Seele! Ich bin deutlich medienabstinenter geworden in letzter Zeit, lese keine Ukraine-News (bekomme aber mit, was los ist per Nachrichten und Headlines), vertiefe mich nicht in Streitereien (wie viele Nebenwirkungen gab es denn nun?, wer ist zur Unzeit in den Urlaub gefahren? Was macht Scholz schon wieder falsch?….) und sogar Twitter „besichtige“ ich viel seltener.

    Raus in die Natur (bzw. in den Garten) hilft sehr!
    Lieben Gruß
    Claudia

    Antworten
    1. Thinkabout Beitragsautor

      Liebe Claudia
      60% der Schweizer StimmbürgerInnen haben die Widerspruchslösung heute angenommen – in etwa das Ergebnis, das ich erwartet habe. Nicht erst der Umgang mit Corona und die dabei definierte Art von Solidarität für die Gesellschaft hat mir gezeigt, wie Verantwortung reklamiert werden kann und welch irritierend unreflektiertes Verhältnis wir zu unserer Endlichkeit haben. Das Kärtchen, mit dem ich eine Organspende ablehne, trage ich auch immer bei mir.
      Das mit den Ukraine-News kriege ich noch nicht so hin wie Du, aber ich arbeite daran. Twitter verstehe ich noch immer nicht, und auch Musk wird mich da nicht weiter bringen. Den Account habe ich aber noch, und so alle paar Wochen schaue ich rein, aber nicht mal die Texte hier verlinke ich noch alle. Es ist ja mehr das Angebot eines Megaphons, mit dem man laut mit Gleichgesinnten brüllen kann. Und eines der SocialMedia-Elemente, mit denen Desinformation so leicht erfolgreich sein kann.
      Mit der Natur halte ich es genau so. Sie ist wahrhaftig eine Freundin. Auch wenn wir schändlich mit ihr umgehen…. aber irgendwie passt das zum eingangs Gesagten…
      Danke für Deinen Kommentar!

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