Archiv für den Monat: Juli 2022

31.Juli 2022, 3:45

Heute wird im Wembley erneut Geschichte geschrieben

Mit dem Final der Fussball-Europameisterschaft der Frauen im Wembley zwischen England und Deutschland wird deutlich, welche atemberaubende Entwicklung der Frauenfussball in Europa genommen hat, und wie sehr die Frauen mittlerweile Teil der Fussballwelt geworden sind.

Im WM-Final im Londoner Wembley-Stadion 1966 zwischen England und Deutschland ist es kurz nach fünf Uhr nachmittags. Es läuft die Verlängerung, in welche sich die Deutschen erst 20 Sekunden vor Ablauf der regulären Spielzeit mit dem Ausgleich zum 2:2 gerettet haben. Es bricht die 101. Minute an und Geoff Hurst schiesst aufs deutsche Tor. Der Ball prallt von der Lattenunterkante auf die Tor-Linie hinter dem deutschen Torhüter, und von dort wieder ins Feld. Doch war der Ball auf der Linie oder dahinter? Bis heute lässt sich herrlich darüber streiten. Absolut geklärt wurde es nie. Den Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst wird man immer mit dieser Szene verbinden. Er entscheidet nach Rücksprache mit seinem sowjetischen Linienrichter Tofik Bahramov auf Tor. Die Deutschen erholen sich nicht mehr von diesem Niederschlag und verlieren schliesslich 2:4 und erweisen sich rund um Uwe Seeler als faire sportliche Verlierer. Das Bild, wie Seeler zwischen englischen Bobbys geknickt vom Platz geht, hat ikonischen Erinnerungswert. Kein Mensch im Stadion hätte dir in diesen Minuten geglaubt, wenn du ihm gesagt hättest, dass England damit zum ersten und letzten Mal einen grossen Titel gewonnen hat, und dass exakt 56 Jahre und ein Tag nach diesem denkwürdigen Spiel die Finalpaarung der Europameisterschaft wiederum England gegen Deutschland lauten würde – im erneut prall gefüllten, inzwischen für hunderte Millionen Euro rund erneuerten und doch immer noch so traditionsreichen Wembley-Stadion – aber im Frauenfussball.

Mit diesen Analogien, dieser Linie in der Geschichte – und durch die Begeisterungsfähigkeit nicht nur der englischen Zuschauer bekommt der Frauenfussball eine Bühne und die entsprechende Beachtung, die sich die Frauen wahrhaftig auch verdient haben. Lange mussten die Mädchen in den Clubs echt unten durch, und noch heute liest sich der Karriereverlauf mancher Frau sehr abenteuerlich, weil es einfach zu wenig Mädchenmannschaften gab und gibt. Aber die Frauen holen mächtig auf. Ein gutes Beispiel ist Österreich. Es hat der deutschen Nationalmannschaft das Leben im Viertelfinal richtig schwer gemacht – bis zum Abpfiff. Das steht für eine herausragende Entwicklung in unserem Nachbarland: Als Deutschland 1989 zum ersten Mal Europameister wurde, gab es den österreichischen Frauenfussballverband noch gar nicht… Aber die Entwicklung in vielen Ländern ist sehr dynamisch, was dazu führte, dass Deutschland, hinter der USA bei den Frauen die zweiterfolgreichste Nation der Welt, nun selbst eine kleine Durststrecke hinter sich hat und seit den Olympischen Spielen 2016 keine Meisterschaft mehr gewonnen hat. Nun also zum neunten Mal Deutschland oder zum ersten Mal England?

Es wird ein Fest der Emotionen – und ziemlich sicher ein Abbild der Begeisterung, die Frauenfussball wecken kann. Natürlich ist das Spiel nicht so physisch und temporeich wie bei den Männern – aber die haben auch 50 Jahre Vorsprung als reine Profisportart – was bei den Frauen noch immer in den meisten Nationen unvorstellbar ist. Dafür wird mit sichtbarem Engagement nicht nur gekämpft, sondern auch gespielt. Mit (noch) weniger Mätzchen und Theater. Und ein Phänomen ist eine weitere Beobachtung wert: Die grossen Clubs unterhalten heute alle Profiteams auch bei den Frauen – und während bisher Begegnungen bei den Frauen häufig auf kleineren Plätzen ausgetragen wurden, wechseln sie nun in die grossen Stadien – und können sie gar füllen. Barcelona gegen Madrid in der Champions League im Viertelfinal sahen 91.553 Besucher. Weltrekord. Es findet eine interessante Symbiose statt: Die Clubs und die Spielerinnen erkennen das Marketingpotential, und Social Media ist das ideale Gefäss dafür – egal welches Portal mann und frau sich anschaut.

Und was auch herrlich ist: Das ist ja eigentlich ein Genderthema, nicht wahr? Aber ich habe mich noch keinen Moment ernsthaft gefragt, ob ich jetzt Frauschaft schreiben soll? Gendergerecht bedeutet hier, dass man die Frauen nicht nur Fussball spielen lässt, sondern ihnen attestiert, dass es toller Sport ist – und dass wir alle einfach Freude daran haben können.

Also: Heute Abend. Anpfiff ist 18h00. SRF, ARD und ORF möchten mit ausführlichen Vorberichten gerne, dass wir schon früher zuschauen. Auch das wie bei den Männern.

Ich werde es geniessen, auch weil ich Sympathien für beide Teams habe. Die Trainerin Deutschlands, Martina Voss-Tecklenburg, hat zuvor viele Jahre herausragende Arbeit in der Schweiz geleistet und ist nicht nur eine ausgewiesene Fachfrau, sondern auch eine Person mit sehr gewinnender Ausstrahlung, der man die Fähigkeit zur Teamführung sofort abnimmt. Und England, weil eine Party im Wembley doch einfach auch eine Party für die Gastgeber sein soll. Und wie schön ist das denn, wenn die Frauen das erreichen, was die Männer so lange vergeblich versuchten, zuletzt letztes Jahr, an gleicher Stätte, gegen Italien, mit der Niederlage im Elfmeterschiessen. Und so was wie eine Ersatzveranstaltung ist es längst nicht mehr – dafür sorgt allein schon die Bühne, sorgen wir Zuschauer, die an dieser EM auch sehr oft hingeschaut haben, wenn die eigenen Mannschaften nicht dabei waren oder schon ausgeschieden. Die Rekorde purzeln in allen Messbereichen.

19.Juli 2022, 2:40

Polarität

Ich versuche hier nicht eine wissenschaftliche Abhandlung eines Fachbegriffs. Das Wort erinnert mich vielmehr an die Wesensart der kreativen Energie.

Ich denke, dass viele Menschen, die kreativ Werke erschaffen und sich dabei nach ihren inneren Antrieben und nicht so sehr nach Terminvorgaben richten müssen, diese Feststellung machen: Es gibt tatsächlich manisch aktive und im Gegensatz dazu eher verharrende, blockierende Phasen, in denen Kreativität kaum gebündelt werden kann.

Persönlich stelle ich fest, dass das Letztere mir wohl oft unbewusst dazu dient, mich neu auszurichten. Es ist eine eher trüb empfundene Zeit, in der ich antriebslos scheine, doch ganz eindeutig arbeitet immer „etwas“, oder wohl eher ganz Vieles in mir. Und wenn dann die Tasten aktiviert werden, dann fliegen die Finger auch oft eher über sie hinweg, als dass Worte noch gesucht werden müssten.

In diesem Wechselbad sind dann auch die Themen dabei, sich auszubilden und zu festigen, und ganz oft wird etwas nicht rund – oder in den eigenen Widerständen nicht so akzentuiert greifbar, dass daraus ein Text werden könnte, der eine Richtung weist: Polarität kann auch auf den Inhalt anwendbar sein, wenn Differenzierung möglich wird, heiss und kalt, weiss und schwarz sich vermengen und dabei kein Brei herauskommt, sondern eine von einer individuellen Energie getragene Stossrichtung, die dann wahrhaftig mit mir selbst zu tun hat – und sei es auch nur die Abbildung einer Etappe im Prozess mit einem Thema.

Und womöglich ist Schreiben ein so einsamer Prozess, dass sich ihm auszuliefern bedeutet, dass man auch ganz viel Mut aufbringen muss, mit sich allein zu sein – nur weiss ich noch immer gar nicht, ob dafür eine manische oder eher eine depressive Phase besser geeignet ist – und in welcher Reihenfolge. Depression auch hier eher verstanden als die Brocken schleppende Auseinandersetzung auf dem steinigen Weg der Selbstreflexion.

13.Juli 2022, 0:15

Das Zipperlein darf unwichtig werden

Warum treibst du Sport? Bist du gut darin? Wie wichtig ist dir das? Ich habe als Junge und junger Mann leidenschaftlich gerne Fussball gespielt, und heute spiele ich Tennis. Eigentlich war ich der Meinung, dass ich in jedem Sport, für den man einen (runden) Ball braucht, ganz gut zurecht komme. Nun, die Verklärung der Erinnerung an die Fussballerzeiten nimmt mit dem zunehmenden Alter ab… ein schmerzliches Beispiel dafür, dass Erinnerungen auch gern so was wie Erfindungen werden… und im Tennis, zum Teufel, ist die Erkenntnis der höchst relativen Begabung quasi live über mich gekommen…

Im Tennis fordert praktisch jede Spielsituation ein reaktives Verhalten auf eine dynamisch entstehende Situation, und streng genommen ist keine einzige Aktion genau gleich wie eine frühere, auch wenn man für die unterschiedlichsten Situationen den „richtigen“ Schlag trainiert – und das natürlich auch Sinn macht und Sicherheit schaffen kann. Koordination und Timing sind eine faszinierende Herausforderung, und ein technisch gelungener Schlag, ein ideal getroffener Ball, verschafft ein tolles Gefühl.

Gott sei Dank, würde man meinen, gibt es da auch noch den Aufschlag. Die einzige Situation, der einzige Schlag, bei dem du die absolute Kontrolle hast. Du bestimmst das Timing, du hast Zeit. Und genau dieser Schlag, mit dem ich den Ballwechsel beginne, funktioniert bei mir nicht. Noch schlimmer. Nicht der Schlag an sich, von dem man durchaus mit Recht sagen kann, dass er in seinem Ablauf komplex ist, funktioniert bei mir nicht. Ich komme gar nicht so weit. Es ist der Ballwurf, der mich schon wahnsinnig macht. Den gelben Filzball mit der linken – ruhigen – Hand in vernünftige Höhe, sagen wir höchstens anderthalb Meter hoch, und an den wenigstens in etwa immer gleichen Punkt vor dem Körper zu werfen – ich schaff es nicht. Es ist sogar immer schlimmer geworden. Nun habe ich die professionelle Hilfe eines sehr guten Trainers gesucht – und habe gute Ratschläge getankt, mit denen ich mein Zipperlein aktiv in der Situation bekämpfen kann. Sofort recht gute Erfolge im Training – doch im „Wettkampf“ ein Fiasko nach dem andern. Diesen Montag war es dann die maximale Katastrophe. Also keine Turniere mehr. Zeit lassen. Damit umgehen lernen. Und mir nicht die Freude nehmen lassen. Denn mein Problem mache ich zwar ganz offensichtlich in Kopf und Körper riesengross – aber es ist so winzig klein gegenüber anderen…

Ich habe einem Turnier für geistig behinderte Menschen beigewohnt, und was ich da gesehen habe, was ich für Eindrücke bekommen habe, was es wirklich heisst, motorische und sensorische Probleme zu meistern – und jetzt kommt’s – und dabei reinen Spass zu empfinden, auch wenn es nicht gut gelingt – das hat mich schwer beeindruckt. Ich möchte davon weiter lernen. Und mir den Spass nicht verderben lassen. Das mache nämlich ich ganz alleine. Und wenn ich das einordnen kann, mag ich eines Tages auch das Gleiche sagen, was mir all die Cracks an dem Turnier vorgelebt haben: Ich hab mein Zipperlein überwunden – und wenn nicht, hab ich es eine Nebensache bleiben lassen. Ich darf Tennis spielen. In welcher Form auch immer. Und es ist eine Lust – mit welchen Voraussetzungen auch immer.

Und jetzt müsst ihr mich entschuldigen. Ich muss noch ein paar alte Schläger sammeln. Schläger, welche wir weg gelegt haben, weil wir denken, mit dem allerneusten Modell wären wir erfolgreicher. Die gebrauchten liegen dann viele Jahre rum – während die Cracks, die ich oben angesprochen habe, damit ganz wunderbar zu spielen verstehen.