Ressort: Gesellschaft(Weitere Infos)

24.Oktober 2022, 23:50

Wir in Katar

Bald ist Fussball-WM in Katar, und wir können uns wieder mal empören. Nun sind nicht nur die miesen Bedingungen für Bauarbeiter im arabischen Unrechtsstaat ein Thema, sondern auch die Einschränkungen für Homosexuelle und erst recht andere Transgender-Personen. Und was Verlautbarungen aus dem Westen hierzu kund tun, zeigt einmal mehr, wie absolut scheinheilig unsere Aufregung ist:

Gary Lineker, einer der Fussball-Starkommentatoren in England, hat laut überlegt, was für ein starkes Zeichen teilnehmende Fussballer aussenden könnten, wenn sie sich in einem Staat, in welchem gelebte Homosexualität scharf strafrechtlich sanktioniert wird, auf der Bühne der Fussballweltmeisterschaft als schwule Männer outen würden. Im Sporttalk Doppelpass wurde darüber diskutiert, dass sich die Spieler beim Torjubel doch demonstrativ auf den Mund küssen sollen, um ein Zeichen zu setzen.

Verlogener und blöder geht es nicht mehr – und wir setzen einmal mehr ein Zeichen dafür, dass wir nicht wirklich geschnallt haben, was unsere eigene ehrliche Auseinandersetzung mit den Themen bedeuten würde. Die würde nämlich beim Fassen an die eigene Nase ansetzen und und uns dort hinlangen lassen, wo die eigenen Probleme bei uns liegen, statt anderen Völkern Vorschriften zu machen, die offensichtlich noch ein ganz anderes kulturelles Verständnis und in keiner Weise auf uns für deren Beurteilung gewartet haben.

Denn Fakt ist, dass der Weltfussballverband FIFA die WM nach Katar vergeben hat – im vollen Wissen um die Umstände – und dabei ganz viel Geld geflossen ist – auch in ganz viele westliche Taschen. Statt sich befremdet zu geben, sollten wir uns vielleicht die Frage stellen, wie verhindert werden kann, dass eine solche WM-Vergabe wieder stattfinden wird? So richtig nachgefasst und hartnäckige Ursachenforschung betrieben, so dass es auch weh täte, hat da kaum ein Journalist, oder?

Und unseren Job für eine von Homophobie freie Gesellschaft hätten wir dann getan, wenn sich gar keine Fussballer mehr zu outen hätten, wenn sie in Katar Fussball spielen, weil sie das längst schon ohne Aufhebens in Europa hätten tun können. Tatsächlich aber lassen sich die Männer, die sich im Profi-Fussball als schwul geoutet haben, in den meisten Ligen an einer Hand abzählen. Und das hat seine Gründe. Wir haben also noch ganz viel eigene Arbeit zu leisten und brauchen hier in keiner Weise den Moralapostel zu spielen. Die Katari werden genau so weiterleben, während oder dann nach der WM, wie sie es für richtig halten, und dazu gehört z.B. auch das Kafala-System, das ganz viel Ungleichheit in der Gesellschaft verankert.

Das können wir kritisieren bzw. ablehnen, aber kein Katarer muss sich das unbedingt von uns anhören. Auf jeden Fall dann nicht, wenn wir selbst so scheinheilig sind in unseren Haltungen.

2 Gedanken zu „Wir in Katar

  1. von Relax

    „Verlogener und blöder geht es nicht mehr“
    Stimme dieser Feststellung völlig zu. Ja gehe einen Schritt weiter und bezeichne derartige Aufrufe als völlig bescheuert. Dabei geht es auch gar nicht darum, dass solche idiotischen Provokationen den Schwulen im Land tatsächlich gesellschaftliche Vorteile bringen würden im Sinne von mehr Akzeptanz ihrer sexuellen Orientierung. Sondern die Medienschaffenden hätten für Monate ein Thema, das sie aus sicherer Distanz vom Sofa aus, mit der Bierflasche in der Hand, befeuern könnten. Geht es nämlich um Moral und Werte in anderen Ländern, stehen die Leute im Westen immer mit Schwert und Keule bereit um für das Niederreissen von Regeln und Einschränkungen iin anderen Ländern und fremden Kulturen einzutreten. Gute Kultur ohne Regeln wird ja im Westen erfunden und entwickelt.

    Einen profunden Kommentar zum Fussballgeschehen zu schreiben ist weitaus anforderungsreicher und komplexer, wie das Lästern und Kritisieren über gesellschaftliche Zustände in fremden Ländern.
    .

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  2. Thinkabout Beitragsautor

    Nun sind es weniger als 20 Stunden bis zum ersten Spiel der WM. So richtig nach Fussball ist mir auch nicht. Auch jetzt nicht. Und so dürfte es vielen Fussballfans gehen. Ganz jenseits aller politisch korrekten Diskussionen lässt sich das auf jeden Fall feststellen: Wir Fussballbegeisterten nehmen es den Funktionären des Fussballs richtig übel, dass sie uns diese WM im Grunde geklaut haben. Diese Welt, die uns da gezeigt wird, ist uns so fremd, und sympathisch gemacht wird sie uns auch nicht. Ausser jenen Kataris, welche Grossprojekte finanziert bekommen haben – wer hat sich sonst nicht verrechnet?

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