Ich habe mir vorgenommen, die Roman-Reihe „M“ von Antonio Scurati zu lesen. Sie wird von verschiedensten Stellen hoch gelobt. Enorm viel Recherche – und Romane, die entsprechend auf Fakten abgestützt die Geschichte nacherzählen. Es soll mit der Beschreibung vom Aufstieg, der Macht und dem Niedergang von Mussolini ein Werk sein, das die Entstehung des Faschismus beschreibt und damit gleichzeitig vor ihm warnt – auch für heutige Zeiten.
Ich habe mich bewusst für die italienische Geschichte entschieden, weiil ich sie viel weniger gut als die deutsche kenne, die Distanz etwas grösser ist und damit vielleicht auch der Zugang unbelasteter.
Der erste der vier Bände heisst „M – Der Sohn des Jahrhunders“ und hat 816 Seiten. Das schreckt mich nicht, und ich glaube, für mich sehr wohl Erkenntnisse zu gewinnen und die Mechanismen besser zu verstehen.
Doch ich frage mich: Wie soll diese Art des Erkenntnisgewinns in der heutigen Zeit Verbreitung finden? Auch in meinem privaten Kreis diskutieren wir vornehmlich über Statements und Beiträge im Tweet-Format. In jedem Fall sind es kurze Textschnipsel, und ganz egal, ob aus einem grösseren Zusammenhang gerissen oder nicht – sie werden verbreitet und – eben – diskutiert. Wie aber soll eine fundamentale Auseinandersetzung mit einem bedeutenden Thema uns heute noch erreichen – und uns womöglich differenzierte Aussagen zumuten, die wir dann in einer Diskussion mehrheitsfähig werden lassen?
Alle Achtung, dass Du Dir solche Wälzer vornimmst! Ob es dabei hilft, das heutige Italien besser zu verstehen?
Als Deutsche reicht mir die Geschichte der Weimarer Republik und der Folgejahre als abschreckendes Beispiel und lehrreicher Verlauf des Aufstiegs der Nazi-Ideologie, die in das bekannte, beispiellose Desaster führte. Von Italien habe ich immer kolportiert gehört, dort sei es „bei weitem nicht so schlimm gewesen“ mit dem Faschismus.
„Wie soll diese Art des Erkenntnisgewinns in der heutigen Zeit Verbreitung finden?“ – gar nicht, die Zeit dicker Wälzer ist vorbei, auch wenn es noch ein paar Ethusiasten gibt wie Dich! 🙂
Es gibt aber durchaus noch einige Bücher, die zum Gespräch werden bzw. dazu beitragen, weil sie aktuelle Fragestellungen und teils „disruptive“ Entwicklungen thematisieren. Zur Zeit z.B. „NEXUS: Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz“ von Harari. Ich „lese“ es gerade als Hörbuch – Gedrucktes vermag ich nicht mehr in Buchform zu lesen, auch wegen der Augen, die vom Bildschirm ja schon genug belastet sind.
Hier eine Rezension:
https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/literatur/wirtschaftsbuchpreis/yuval-noah-harari-nexus-ein-buch-ueber-ki-ihre-macher-und-ihre-opfer-01/100067097.html
Ansonsten liebe Grüße, ich freu mich immer, wenn du mal wieder was bloggst!
Liebe Claudia
Vielen herzlichen Dank für Deinen Kommentar und die Gedanken zum Thema. Es könnte, was die Verarbeitung und Verbreitung von Erkenntnissen in der heutigen Zeit betrifft, noch um die Beobachtungen erweitert werden, was in einem so genannten „Hype“ aus Büchern und überhaupt Botschaften werden kann…
Ich bin mir nicht sicher, ob die Autoren sich immer wirklich in dem erkennen, auf das ihr aktuelles Werk herunter gebrochen wird, aber Beachtung und Diskussion an sich schafft die Möglichkeit, weitere Impulse zu setzen.
Es geht mir als Schweizer nicht so sehr darum, welcher Faschismus nun besonders schlimm war – und ich denke, eine solche Wertung ist grundsätzlich falsch. Sie dürfte mehr über die Art der Auseinandersetzung mit der Geschichte aussagen als über die Geschichte selbst. Der Werdegang Mussolinis ist atemberaubend genug, und ich glaube, dass es viele Aspekte gibt, die länderübergreifend zeitlos gültig bleiben, was uns alle dann wirklich beschäftigen sollte.
M. spricht ganz zu Anfang, am 23. März 1919 davon, dass Europa eine leere Bühne sei, und dass die Moderaten und ihr gesunder Menschenverstand („dem wir seit jeher unser Unglück verdanken“) verschwunden wären, und er geisselt die „maroden Politiker, die in der Angst des unmittelbaren Niedergangs leben und jeden Tag um einen Aufschub des Unausweichlichen [ihres Niedergangs] betteln“.
Die Sprache mag martialisch sein, aber was beschrieben wird, ist nicht so ganz weit weg von dem, was wir heute beobachten können: Die Demokratien Europas haben einen alarmierenden Mangel an wirklichen Staatsmännern und -frauen.