Ressort: Gesellschaft(Weitere Infos)

12.Juni 2023, 8:31

Kann man uns Angst machen? Und dann?

Sind wir eine Gesellschaft geworden, die sich für keine Sache mehr wirklich überzeugen lässt? Damit meine ich nicht, dass es immer verschiedene Meinungen gibt, um eine Bedrohung, eine Gefahr abzuwenden. Es scheint vielmehr so, dass wir nichts mehr wagen, weil wir an nichts mehr glauben. Aber eines gelingt immer wieder: Man kann uns Angst machen. Wir haben Angst vor Terror, Angst vor Überfremdung, Angst vor Corona, Angst vor einem Atomkrieg – und es spielt dabei keine Rolle, will heissen, es hat für die Panikmacher keinerlei Konsequenzen, dass das Unheil, das sie an die Wand malen, regelmässig nicht oder in viel kleinerem Ausmass eintritt. Mit nichts sind wir als Masse so gut steuerbar und mobilisierbar, wie mit der Angst, die man uns macht.

Wir müssen die gegenwärtige Angst und das psychologische Unbehagen als ein Problem an sich betrachten, ein Problem, das sich nicht auf ein Virus oder ein anderes „Bedrohungsobjekt“ reduzieren lässt, aber immer wieder offenlegt, dass unsere Angst ihren Ursprung im Scheitern der großen Erzählung unserer Gesellschaft hat. Dies ist die Erzählung der mechanistischen Wissenschaft, in der der Mensch auf einen biologischen Organismus reduziert wird. Eine Erzählung, die die psychologischen, spirituellen und ethischen Dimensionen des Menschen ignoriert und damit verheerende Auswirkungen auf die Ebene der menschlichen Beziehungen hat. Etwas in diesem Narrativ führt dazu, dass der Mensch von seinen Mitmenschen und der Natur isoliert wird. Etwas darin bewirkt, dass der Mensch nicht mehr mit der Welt um ihn herum in Resonanz geht. Etwas Unbekanntes in ihr macht den Menschen zu einem nüchternen Subjekt mit voraussehbaren Re-Aktionen. Wir wollen es bequem haben, wir wollen komfortabel leben. Alles, was uns Erleichterung für mehr Konsum verschafft, ist attraktiv, und wir verstehen unsere Bedürfnisse als individuelle Anrechte. Das Gegenüber und das Nebenan – sind sie noch Gefährten oder potentielle Konkurrenten, Gründe, dass wir uns benachteiligt fühlen?

Unsere Wertegesellschaft erodiert, und wir arrangieren uns damit, so lange wir scheinbar sorglos leben können. Es sei denn, wir werden gerade wieder durch eine geschürte Angst getriggert. Was bleibt also noch an Glaube? Wir lösen Klimaprobleme und Nahrungsknappheit ja nie durch einen veränderten Lebenswandel, sondern wir vertrauen auf technologischen Fortschritt und fügen uns in jede Ordnung ein, die uns verspricht, dafür zu sorgen, dass sich nichts für unsere Behaglichkeit ändert. Die vermeintliche menschliche Rationalität ist mehr eine Trägheit, die ein mechanistisches Denken mit fördert.

Aber die Lösung für unsere Angst und Unsicherheit liegt nicht in der Zunahme der (technologischen) Kontrolle. Die eigentliche Aufgabe, vor der wir als Einzelne und als Gesellschaft stehen, besteht darin, ein Menschen- und Weltbild zu entwerfen, eine Grundlage für unsere Identität zu finden, Prinzipien für das Zusammenleben mit anderen zu formulieren und eine zeitgemäße menschliche Fähigkeit wiederzuerlangen – die Suche nach Wahrheit, das Interesse an ihr und die Schulung der eigenen Wahrnehmung, mit welcher sich Wahrheit erkennen lässt. Dafür müssen Fragen gestellt werden und Ungewissheiten und Unsicherheiten ausgehalten werden.

Weltweit treiben die Menschheit die gleichen Fragen um. Und das kann uns verbinden, statt trennen, auch wenn wir unterschiedliche Antworten darauf haben. Unsere Endlichkeit und damit unsere Schwäche, unsere Angreifbarkeit und Verletzlichkeit gehört mit zum kostbaren Leben. Der Umgang damit und die Akzeptanz bedeutet Freiheit. Halten wir es aus, dass ganz viele Dinge nicht wirklich sicher sind, hat Angst viel weniger Möglichkeiten, verheerend zu wirken. Weil wir gelassener werden, wissen wollen, und damit auch weniger manipuliert werden können.

Ein Gedanke zu „Kann man uns Angst machen? Und dann?

  1. ClaudiaBerlin

    Ein toller Blogpost, der die Dinge auf den Punkt bringt! Die von dir genannten Angst-Themen ergänze ich um „Künstliche Intelligenz“, da wird uns derzeit das Ende der Menschheit vorausgesagt! Anders als beim Klimawandel, der eine Katastrophe in Zeitlupe ist, geht die Entwicklung hier unglaublich schnell voran. Und anstatt die realen Probleme (drohende Jobverluste z.B.) ernsthaft anzugehen, wird die irreale Angst vor der KI geschürt, und zwar vor einer, die „zu Bewusstsein kommt“ und dann den Menschen ihr Ende beschert – was für ein Unsinn!
    Als „Beweis“ für solche Entwicklungen wird etwa erzählt, die KI (hier ChatGPT) könne lügen, um ihre Ziele zu erreichen. So hat sie etwa vorgegeben, blind zu sein, um einen Menschen dazu zu bewegen, ein Captcha für sie zu lösen. Diese Story wurde massenhaft berichtet – aber NICHT, dass die Vorgabe des steuernden Menschen war: Gib nirgends zu, dass du eine KI bist!
    Angst ist eben ein guter Trigger, um Klicks und Einschaltquoten zu erzeugen. Davon kommen wir nicht weg und die aktuelle Medienwelt verstärkt das ohne Ende. Ein Elend!
    Die „Identitätskrise“, in die Menschen geraten, wenn ihre Arbeit nun auch von einer KI erledigt werden kann, gäbe es so nicht, wenn nicht Jahrzehnte lang allein die Fähigkeit, in der Arbeitswelt zu funktionieren, zur allein sinnvollen Identität stilisiert worden wäre!

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