Ich bin ein Sportfreak. Allerdings interessieren mich neben den Leistungen meiner Lieblingssportler und -mannschaften vor allem die Geschichten dahinter.
Sportkarrieren sind oft Inspiration für Durchhaltewillen und die Festigkeit einer Überzeugung. Und erfolgreicher Mannschaftssport ist manchmal wunderbar offensichtlich auch das Ergebnis einer besonderen Menschenführung. Solche Ereignisse lassen mich selbst vor Menschen vom Sport reden, bei denen ich weiss, dass ihr Interesse daran sehr bescheiden ist.
Die aktuell beste deutsche Fussballmannschaft heisst Bayer 04 Leverkusen. Die Mannschaft wird die Werkself genannt, weil der Club vom Chemiegiganten Bayer alimentiert wird. Kontrahenten wie Leipzig oder Hoffenheim werden von eingefleischten Bundesligafans herzhaft dafür gehasst, dass sie „nur“ dank dem Geld von Mäzenen oder Konzernen erfolgreich sind. Dass mit dem eingesetzten Geld auch vernünftig gearbeitet und durchaus konstruktiv etwas aufgebaut wird, gilt nicht als Argument. Bei Bayer 04 Leverkusen ist das anders, und der Grund ist eigentlich ein fieser. Denn dem Club haftet der Ruf an, im besten Fall Zweiter zu werden. Vizekusen haben sie als Wort in einem Anflug von galgenhumoriger Verzweiflung sogar als Marke patentieren lassen, und obwohl im letzten Moment vergeigte Meisterschaften oder Finalniederlagen in Cupwettbewerben zwanzig Jahre her sind, wusste es jedes Kind: Das sind die, welche am Schluss nie die Gewinner sind. Schadenfroh waren die Kommentare eigentlich nie, der Verein blieb sympathisch, und er hatte immer wieder Repräsentanten als Trainer, Sportvorstände oder in der Unternehmensleitung, die in einer empathischen Weise fussballverrückt waren und durchaus auch Sachverstand bewiesen. Nur eben gilt, dass Fussball nicht gerade eine Raketenwissenschaft ist, ihm aber die Unwägbarkeit innewohnt, dass es einen riesigen Unterschied macht, ob der Ball um 10 cm versetzt an den Pfosten prallt oder ins Tor geht. Ein Businessmodell zu erarbeiten, das dieses Problem einkalkuliert, ist eigentlich nicht möglich – oder braucht dann einen so langen Atem, dass am Ende die wirtschaftlichen Unterschiede so gross sind, dass Geld doch die Tore schiesst. Zumindest mittelfristig. Hoffentlich.
Aber ich schweife ab. Leverkusen brauchte einen neuen Trainer. Der Ball flog zu oft an den Pfosten oder ganz daneben. Die Mannschaft war, angesichts ihrer fussballerischen Klasse der einzelnen Spieler geradezu absurd schlecht klassiert. Der Club hat seit vielen Jahren eine sehr gute Scouting-Abteilung und beobachtet Spieler- und Trainertalente weltweit über lange Zeitspannen. Er ist sich gewohnt, immer einen Plan B oder C zu haben und notfalls anwenden zu können, weil er Übung darin hat, dass die besten Spieler weiterziehen wollen oder verkauft werden müssen – weil dem Budget eben doch Grenzen gesetzt werden und der Club, eben, oft gewinnt, aber nicht oft genug.
Und dann kommt es zu einem Match, zu einer Verbindung eines neuen Trainers mit seinem neuen Team, über das heute die ganze Fussballwelt staunt, und dem alle, die Fussball lieben, wünschen, dass es noch lange weiter erfolgreich ist.
Xabi Alonso war ein Weltklassespieler, der schon als Spieler wie ein Trainer dachte und zweifelsfrei wusste, was er weiter würde machen wollen.
Er hatte bei Weltvereinen in drei verschiedenen Ländern gespielt und überall Erfolg gehabt, in England bei Liverpool, in Deutschland bei Bayern München und bei Real Madrid. Aber als Jungtrainer wusste er, dass er genau so wie als junger Spieler viel lernen musste und wollte.
Er arbeitete in seiner Heimat im Nachwuchs und trainierte die zweite Mannschaft von San Sebastian. Heute wissen alle, dass er mit dieser Mannschaft auch gleich aufstieg, und keinen interessiert es mehr, dass darauf auch wieder der Abstieg folgte. Leverkusen hat das nicht gestört. Sie kannten auch seine zweite Karriere bereits besser als viele andere, und das muss Alonso sehr genau gespürt haben. Doch er unterschieb nicht einfach den ersten Vertrag bei einer etablierten Profimannschaft, bevor die Chance wieder vorbei war, denn Leverkusen hatte ja Bedarf. Nein. Er kam her, wollte alles kennenlernen, auch die Stadt und die Schule für die Kinder, und er fragte nach dem Museum von Bayer 04 Leverkusen. Die meisten Menschen in Deutschland dürften nicht gewusst haben, dass ein Club mit so wenig Titeln überhaupt so was hatte??? Alonso wusste: Es heisst Bayer 04 – also erwarten mich 120 Jahre Geschichte. Hinter den bekannten Tragödien stecken Menschen mit Geschichten – und ein Verein mit heute moderner Infrastruktur. So, wie Leverkusen die Umsicht der managementbasierten Personalsuche kultivierte, so nutzte Alonso seine Erfahrungen als Spieler in Weltvereinen, um die vorliegende Führung und die Strukturen zu beurteilen.
Als Alonso unterschrieb, wussten alle Seiten schon, was sie aneinander haben würden. Ich war skeptisch. Alonso war ein toller Fussballer, aber Fremdsprachen waren nicht sein Steckenpferd. Sein Deutsch war – trotz seiner Zeit bei Bayern München – höchst holperig. Das wusste er. Und doch gab er von Anfang an Interviews auf deutsch. Eine Frage des Respekts und ein gelebtes Beispiel: Zum Job gehören auch Dinge, bei denen ich nicht glänzen kann. Aber lernen. Und sein Bemühen wurde geschätzt. Botschaft angekommen, Respekt erhalten. Einem Weltfussballer wirft man nicht fehlenden Wortschatz oder mangelnde Grammatik vor.
Der Start war durchzogen. Alle blieben ruhig. Am Schluss der Saison stand ein 6. Platz – und das Halbfinale in der Europa-League, das gegen die AS Rom verloren wurde. Und da geschah etwas Spannendes: Alle ärgerten sich über die Niederlage. Die Ansprüche kamen zurück, und der Glaube. Und dann stand Leverkusen vor der neuen Saison. Mit einem Trainer, der schon da war und Fuss gefasst hatte. Mit einer Suchtruppe für neue Spieler, die noch professioneller arbeitete als bisher und die seinen Namen und dann seine Person auch bei Gesprächen mit möglichen neuen Spielern offensiv als Argument einsetzte. Es kamen Spieler, die unbedingt unter diesem Mann trainieren und spielen wollten, es kamen Spieler, weil man ihnen sagen konnte, wer sonst auch noch dabei sein würde. Die Mannschaft war zu Beginn der Sommervorbereitung schon komplett, der neue Mittelfeld-Stratege Xhaka hatte nach der anstrengenden letzten Saison einen Kurzurlaub. Doch Xhaka erschien drei Tage früher im Training. Er wollte loslegen und setzte damit ein Zeichen. Und davon gab es ganz viele. Natürlich hatten alle auch um Geld verhandelt und kannten ihren Marktwert, aber da war keiner, der dabei abhob. Das Gehaltsgefüge ist offenbar gut austariert – in einer Weise, dass sich ein jeder auf dem Platz ansieht und weiss, dass der andere sein Geld wert ist und vor allem bereit, dafür und damit für die Mannschaft zu schuften.
Der Rest ist ein Märchen. Es ist surreal. Die Mannschaft ist seit dem Sommer in 45 Pflichtspielen national und international ungeschlagen geblieben. Sie hat unzählige Male in der Nachspielzeit noch Tore erzielt, die entscheidend waren. Der Ball flog immer wieder 10cm neben den Pfosten. Aber auf der richtigen Seite. Und alle sind überzeugt: Es ist kein Zufall. Jeder singt Schalmeien auf diese Truppe, auf den ganzen Verein. Alle haben ein Leuchten in den Augen. Aber sie zeigen auch eine Demut, die nicht gespielt ist. Denn Alonso lebt sie vor. Er bleibt ruhig, bescheiden, ist sich bewusst, dass in der heutigen Medienlandschaft seine Aussenwirkung entscheidend ist – und er verbindet dies mit einem persönlichen Bezug zu jedem einzelnen Spieler. In einer Gruppe von 25 Spielern können nur 11 von Anfang an auflaufen. Alle anderen sind tendenziell unzufrieden. Bei Leverkusen konnten nahezu alle zeigen, dass sie wichtig sind. Und ihr Chef misst diese Wichtigkeit nicht nur an Einsatzminuten. Er kennt all die vielen Aspekte, die nicht in Leistungstabellen messbar sind, aber die Energie einer Kabine mitbestimmen – und damit die Basis des Erfolgs im Mannschaftssport.
Praktisch jeder Spieler ist in dieser Saison besser geworden, hat sein Niveau anheben können. Sie sind Meister geworden. Haben es ausgiebig gefeiert, fünf Runden vor Schluss. Alonso hat gar nicht versucht, das einzudämmen. Aber vier Tage später waren sie – nach einer schwachen ersten Halbzeit – doch schon wieder bereit, den Halbfinal in der Europa-League gegen Westham United zu erreichen. Sie können auch diesen Wettbewerb gewinnen. Und den Pokal. Und sie wollen es. Nicht aus Arroganz. Sondern, weil sie nicht nur für sich gewinnen, sondern für einander. Und das ist sehr weit gefasst. Auch das lebt Alonso vor. Hierzu passt als Abschluss diese Erzählung, die beispielhaft für seine Haltung ist:
Im Moment des Triumphs, im Jubel der Spieler und Zuschauer, gab Alonso in den Katakomben des Stadions Interviews. Und er dankte den früheren Trainern und Protagonisten, die damals vor zwanzig Jahren die Geschicke des Vereins führten. Er sprach nicht etwa davon, dass jetzt eine Schmach getilgt sei, sondern davon, wie erfolgreich diese Arbeit war und blieb und wie sehr sie jetzt davon profitieren konnten. Und er nannte Personen beim Namen, die wir Fussballfans gar nicht mehr auf dem Schirm haben. Seine Botschaft: Alle waren und sind wichtig, und das heute ist auch ihr Erfolg. Er wäre ohne die Geschichte und die Beharrlichkeit nicht möglich geworden. Das war und ist schlicht grossartig und so feinsinnig und demütig, dass man zu ahnen beginnt, was dieser Trainer verkörpert und vorlebt.
Sie wollen ihn haben, Überall. Bei Vereinen mit Weltruf mit den ganz glorreichen Geschichten, die alle auch ein Clubmuseum haben – eines voller Pokale. Aber Alonso hat allen abgesagt. Er ist in Leverkusen nicht fertig und Leverkusen ist – noch – gross genug für den noch sehr jungen Trainer. Wenn es mal nicht mehr so gut läuft, und das wird zwangsläufig geschehen, ist es der wohl beste Ort, auch in einer Krise die eigenen Prinzipien aufrecht zu erhalten und nach ihnen zu leben. Und weiter zu wachsen. Und das will dieser Mann ganz eindeutig – und wer es mit ihm auch so hält, wird in dieser Disziplin ganz besonders erfolgreich sein.