Ressort: Gesellschaft(Weitere Infos)

16.November 2021, 18:30

Haus- und Besuchsverbot – und dann?

Je länger die Impfe uns thematisch im Griff behält, um so drastischer werden die Positionen. Und gerade Comedians finden es offensichtlich gar nicht mehr lustig. Und dann wird es tragisch.

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Es gibt Euch und Uns, die Schlechten und die Guten, und jetzt ist mal Schluss mit Lustig – und…

Ich wähne mich im Krieg. Vielleicht deswegen die Rede vom Kollaborieren? Und jetzt werde ich ernst, denn solche Statements sind auch bei mir schon angekommen, in der eigenen Familie. Und wenn das bei Euch noch nicht so weit ist, dann rate ich Euch, alles dafür zu tun, dass das auch so bleibt. Denn: Die Pandemie wird vorbei gehen. Aber das, was wir hier miteinander veranstalten, das wird bleiben… Und das ist ein sehr hoher Preis. Seid Euch einfach bewusst: Wenn Ihr dann die Gnade habt, Eure Türen wieder aufzumachen und die Leute, die ihr zuvor ausgeschlossen habt, sogar wieder eintreten sollten, ist deswegen nicht die heile Welt zurück. Das Erlebte und Gefühlte bleibt. Diese Brüche werden nur schwer zu kitten sein.

12.Oktober 2021, 1:30

Wir verlieren uns

Der Bundesrat und der Mainstream der Politik kämpft um eine Verbesserung der Impfquote. Und ich bin überzeugt, jeder zusätzliche Pieks wird als Erfolg gefeiert.
Es gibt für ganz viele Menschen und Unternehmen ganz viele gute Gründe für die Impfung. Und ein jeder Mensch soll das für sich entscheiden können. Doch so weit sind wir schon lange nicht mehr, nicht wahr?

Wir müssen gar nicht mehr darüber diskutieren, ob es einen Impfzwang gibt oder nicht. Entscheidend für den bröckelnden Zusammenhalt der Gesellschaft ist, dass dieser Zwang subjektiv als solcher empfunden wird. Was wir also als Erfolg verbuchen, bei den Prozenten, die wir jetzt noch zulegen in der Impfstatistik, ist nicht wirklich einer. Wir handeln uns mit dieser ganzen Übung einen viel zu hohen Anteil von Bürgern ein, die sich mehr als nur ein bisschen gegängelt fühlen. Sie gehen verloren. Und das Problem sind nicht jene, die laut protestieren – sondern die stillen, die sich scheinbar schicken. Aber die Erfahrung, plötzlich am Rand gestanden und auch so beurteilt worden zu sein, die bleibt. So manche, die sich jetzt umstimmen lassen, behalten bei sich ein stilles Kopfschütteln – mit der Feststellung, dass man selbst nie für möglich gehalten hätte, dass das geschieht: Meine eigene Gruppe hat kein Problem, über meine körperliche Integrität zu befinden. Menschen, die sich immer als Teil einer Gemeinschaft verstanden haben, sehen sich plötzlich an den Rand gedrängt und zu einem Schritt genötigt, den sie eigentlich nicht gehen möchten. Wenn sie ihn dann doch gehen, bedeutet das nicht, dass sie „verstanden haben“. Oft bleibt etwas zurück. Es entsteht eine Distanz, eine Entfremdung. Das erfahrene Unbehagen sitzt tiefer als der Pieks selbst je eindringen mag.

Und immer wieder die Frage, wie selbstverständlich sich alle über die nicht wirklich beantwortbaren Fragen hinweg setzen können – aber auch das gelingt, natürlich, in der Gruppe ganz leicht. Es gelingt uns immer ganz leicht, wenn wir uns auf der richtigen Seite wähnen, wie auch immer wir uns das zu garantieren glauben. Die Bestätigung ist ja da. Auf Schritt und Tritt.

Wir werden das Virus meistern. Mit ihm leben lernen. Irgendwann. Und ganz schnell werden ganz Viele von uns weiter leben wie zuvor. Denn das ist das, was alle wollen. Aber für ganz Viele von uns wird es nicht mehr das Gleiche sein wie zuvor. Die Solidarität, so wie sie jetzt eingefordert wird, ist für sie nicht wirklich eine. Sie sind nicht gehört und nicht verstanden worden. Es gab eigentlich noch nicht mal den Versuch dazu. Auf jeden Fall viel zu selten.

Die Lebensqualität einer demokratischen Gesellschaft misst sich daran, wie die Mehrheit mit der Minderheit umgeht. So gesehen sind wir gerade dabei, die grösste uns bisher auferlegte Prüfung maximal zu versauen. Die Regierung ist die Exekutive. Wie passend ist diese Bezeichnung!

25.September 2021, 7:11

Wider die Angst

Wenn die Angst uns packt,
das Herz uns in die Hose sackt,
das Denken kreist und schreit,
nur die Flucht uns noch befreit.

Wer uns nun Schutz verheisst,
den Weg ans Licht uns weist,
kann alles von uns kriegen,
mag er nur die Furcht besiegen.

Was uns Angst macht ist die Kunde
möglicher Not in eigner Runde.
Wir leben sicher und auch satt,
im Paradies, das kein Ende hat.

Wird uns Sicherheit genommen,
taumeln wir sofort benommen,
durch den Aufruhr der Gefühle,
im Kopf ein einziges Gewühle.

Die Angst, die uns so sehr bestimmt
uns Allen unsren Frieden nimmt.
Sie überwinden kann gelingen,
wenn wir um Balance ringen.

Nicht nur andre überzeugen,
uns auch in Demut selber beugen,
die Angst als Lehrerin begreifen,
um sie persönlich abzustreifen.

Der Weg ins Licht ist eigen,
persönlich gehbar in dem Reigen
eigener Gelassenheit im Fragen
und von Demut still getragen.

Fragen bleiben, Unbehagen auch,
ein nervöses Flirren tief im Bauch.
Wir reden einander ins Gewissen,
doch niemand hat das letzte Wissen.

Das Ziel bleibt doch am Ende,
dass alles sich zum Guten wende,
wenn wir Unsicherheit aushalten,
und unsren Frieden uns erhalten.

Wir werden alles überstehen,
Licht am Tunnelende sehen.
Versuchen wir, uns zu verstehen.
Lernen wir, uns neu zu sehen.






21.September 2021, 0:20

Die Sache mit dem „Ja, aber…“

iStock_MHJ

Es ist nicht einfach, einander zuzuhören. Eine Meinung stehen zu lassen. Irrglaube und Irrmeinung muss doch korrigiert werden! Sofort! In der (auch privaten) Debatte über politische Inhalte ist der Widerspruch, der Diskurs ja auch eine Art Programm. Dennoch reden wir so oft an einander vorbei, nicht wahr? Und da ist auch diese feine Art der verweigerten Einlassung, wenn uns unter lieben Menschen ein Gefühl angezeigt wird, das, wie wir finden, nicht sein kann oder darf. Verzagen ist nicht, Aufgeben eh nicht, und also wischen wir weg, was nicht sein soll. Und dabei gelingt es uns sogar, uns gut dabei zu fühlen, weil wir ja vorsagen, was stattdessen zu sehen und zu tun ist.

Das mit dem Zuhören ist in unserer Gesellschaft so eine Sache. Mag sein, dass das nie einfach war und schon immer eine Kunst, aber in Zeiten von Social Media scheint es echt verloren zu gehen. Und die Kakophonie der Meinungen auf allen Kanälen verführt erst recht dazu, sich die Schlagworte rauszusuchen, die einem richtig erscheinen, und dann mit dem gleichen #Hashtag hinterher zu reden. Nein. Zu schreien. Sich empört zu geben. Wohin wir uns als Gruppe begegnen, ist immer seltener eine Frage der Argumente als der Lautstärke – und dass wir dabei sein wollen in der Gruppe ist klar, denn sie verspricht in der Zustimmung Halt und Stärke. Eine andere Meinung wird aufgedeckt, erkannt, ist blitzschnell zu verorten: Das ist „Eine von Denen“, oder „noch so ein Spinner“ oder „ein Verblendeter“. Bis zur „Verlorenen“ ist es dann nicht mehr weit.

Zugehört hat man dabei kaum je, mitgefühlt erst recht nicht. Stattdessen wird eine Vernunft aufgerufen, die ihrerseits auf Abwägungen basiert. Die Mehrheit hat es immer leicht, sich „recht“ zu fühlen und agiert darin sehr oft ungerecht, ohne dass es sie zu scheren bräuchte, denn die andern haben selber Schuld, sind schuld.

Fronten bewegen sich nicht aufeinander zu, es sei denn, um zu schlagen. Im besten Fall verharren sie. Am Grund des Übels gab es und gibt es keinen Meinungsaustausch. Alles wird sofort verortet. Schublade auf und Schublade zu. Vielleicht hat man mal Argumente und passende Fakten oder vorläufige Erkenntnisse aufgereiht und angeführt, und im besten Fall beginnt unsere Antwort als Reflex mit:

Ja, aber…

Dabei gibt es keine mächtigere Pause als jene vor einer Antwort, wenn man denn eine Chance zu einem Gespräch bekommt und wahrnehmen kann. Man darf einfach keine Angst vor dieser Pause haben. Sie hat ja durchaus das Potenzial, dass Gesagtes Nachwirken kann – aber auch, dass die eigene Antwort ruhiger und gerundeter daherkommt. Und was ist denn das Ziel? Die unmittelbare Bekehrung? Der Sieg in einer Diskussion, welche beide Seiten wahrscheinlich nicht zum ersten Mal führen? Ein wirklicher Austausch von Meinungen ist eine Chance, die andere und die eigene Position besser zu verstehen. Das Gegenüber hilft mir, zu verstehen und zu lernen – und auch bei Unverständnis wächst zumindest die eigene Informationsfülle. Wenn ich kein Gefühl für die Menschen mit anderer Meinung bekomme, kann ich nicht erwarten, dass sie umgekehrt mir zuhören, weil ich einfach schlicht so brillant bin.

Mit dem Ja, aber schnappe ich ein, hake ich ein, gehe ich sogleich in den Widerstreit. Das mag ja ein rhetorisches Gefecht geben, aber mit rauchenden Colts wird hier niemand aus dem Feld geschlagen. Wir leben miteinander. So ist es gedacht, und so müssen wir es versuchen, wenn wir Frieden erhalten oder schaffen wollen.

Wenn eine oder einer unserer Lieben erkennen lässt, dass er den Mut verliert, ihn eine Lebenssituation überfordert, wenn ein junger Mensch trübsinnig oder ein alter Mensch lebensmüde wird, sich entsprechend äussert, und wir antworten mit

Ja, aber

haben wir das Ja tatsächlich schon übersprungen. Wir zeigen, dass wir es nicht fühlen. Und tatsächlich werden alte Menschen inmitten ihrer Familie oft noch einsamer, wenn ihnen ihre Herausforderung nicht zugestanden werden kann – und nur eine positive Reaktion auf die Trübsal erwartet wird. Wir schwingen uns auf in eine Position, die ein Stück weit eine Anmassung ist, und was wir gut zu meinen glauben, hat mehr damit zu tun, dass wir das Thema, das den lieben Menschen am meisten beschäftigt, im Grunde scheuen. Doch da ist ganz viel Chance drin für uns alle. Denn wie geschrieben: Es sind liebe Menschen, um die es geht und denen wir auch lieb sind. Also, einfach mal

Ja

sagen und lauschen, wie es klingt, mit aller Hilflosigkeit, die dazu gehören kann. Und aus dem gezeigten Verstehen wird womöglich ein Weg, der zusammen gegangen werden kann, ein Vorleben und Mitnehmen, welches die Tage allen nochmals heller macht.

Tatsächlich ist im Umgang mit nahen und fremden Menschen Empathie eine Kunst, die es erlaubt, mit der Meinung und Empfindung der andern auch den Menschen selbst stehen lassen zu können. Abwenden kann ich mich immer noch. Aber dann weiss ich, dass damit rein gar nichts gewonnen ist.

27.August 2021, 2:30

Liebe Geimpfte

Ich bin in diesem Text bewusst und noch mehr als sonst persönlich. Dies einfach deshalb, weil ich feststelle, dass eine objektive Diskussion der Pandemie zur Zeit kaum mehr möglich ist. Und weil ich immer wieder erfahre, dass wir urteilen, ohne Hintergründe zu kennen. Und auch dabei meine ich persönliche. Umstände und- eben – auch Gedanken.

Der Graben in unserer Gesellschaft hat sich aufgetan. Haben wir über die Einschätzungen zu Corona noch so was wie diskutiert, so ist das bei der Kontroverse um die Impfung scheinbar nicht mehr möglich. Der besagte Graben zwischen Geimpften und Ungeimpften verläuft teilweise mitten durch Familien, Freundschaften, Vereine. Und es scheint nurmehr zwei Kategorien zu geben: Die Geimpften sind die Solidarischen – die Ungeimpften die Schmarotzer.

Die Frage des richtigen Verhaltens zum Wohl der Gesellschaft hat sich auf zwei Pieks reduziert. Dabei müssten wir uns doch alle, mit oder ohne Pieks, nach wie vor fragen lassen, wie wir es denn halten in unserem Alltag mit den Anpassungen an die scheinbar so evident bedrohliche Lage?

Wie Viele von uns sind gepiekst aufgebrochen in die Ferien, in den Süden, den Osten, haben Verwandte besucht oder Freunde, haben Dolce Vita genossen, endlich ein wenig Normalität, haben gefeiert und uns gefreut über die laschen Kontrollen oder gar keine, sind mit dem Auto mehrmals über die Grenzen gefahren, ohne je den ominösen Fackel vorzeigen zu müssen. Alles nicht so schlimm oder praktisch überstanden – und jetzt?

Die Empörung über die Ungeimpften ist gross, und diese sehen sich verallgemeinert als Querschläger und Querulanten, Schwurbler und ewig gestrige Globuliphantasten gebrandmarkt. Angesichts der Tatsache, dass das Virus von Allen mit oder ohne Pieks weiter gegeben werden kann, fragt niemand danach, wer denn wie viele Sozialkontakte hat und sich, ungeimpft, womöglich aus freien Stücken schon ein gutes Stück weit defensiver in der Anzahl seiner Begegnungen verhält als seine Mitmenschen. Bin ich, ungeimpft, mit durchschnittlich vielleicht fünf bis zehn Sozialkontakten pro Woche und einem Restaurantbesuch alle vierzehn Tage das grössere Risiko für eine Ansteckung als jemand Geimpfter mit hunderten davon (in entsprechenden Berufen oder dem häufigen Aufenthalt in geschlossenen Räumen) und einem Clubbesuch pro Monat?

Ich kann mit den Einschränkungen für den Besuch von Massenveranstaltungen leben. Womit ich nicht (gut) leben kann, ist mit der Tatsache, dass der Eingriff in meine körperliche Integrität staatlich verordnet werden soll – für einen Vorgang, über dessen Risiken für mögliche Langzeitfolgen niemand wirklich schon Bescheid wissen kann. Die Gesellschaft trifft mit Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung und ihrem vorläufigen Erkenntnisstand einfach eine Risikoabwägung – die nicht meine eigene sein muss. Ich erwarte Euren Respekt für das Risiko, das ich selber zu tragen bereit bin. Dass sich die meisten von Euch haben impfen lassen, um sich vor der Krankheit zu schützen, kann ich verstehen. Auch verstehe ich, dass viele sich impfen lassen, weil sie beruflich viel reisen müssen und es ansonsten furchtbar mühsam ist. Gleichzeitig ist mir unwohl, dass die Abwägung, ob man die Impfung will oder nicht, für manche von uns mit sehr viel mehr im Alltag entstehendem Druck verbunden ist als für andere. Denn, nochmals, es ist eine höchst persönliche Entscheidung.

Nun bin ich also für Euch noch immer ein Risiko. Ich kann Euch trotzdem mit Covid anstecken, auch wenn Ihr weniger schwer krank werdet, und ich kann von Euch angesteckt werden und die Ansteckung weiter geben. Vor allem aber bin ich bin ein Kostenfaktor und ein möglicher Spitalengpassverursacher zu Lasten moralisch integrerer Patienten. Denn wenn ich, trotz sehr selektiver Kontakte mit Corona angesteckt werde, früher oder später, egal in welcher Welle, kann es sein, dass ich ein Spitalbett belege. Die Chance, dass ich die Krankheit überstehe, ohne auch nur in die Nähe eines Spitals zu müssen, ist zwar viel höher, aber tatsächlich kann ich es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschliessen. Dass ich in keinem Fall intubiert werden will und daher wegen Covid kaum je ein Intensivbett belegen würde, beeinflusst hier nur meine persönliche Ratlosigkeit angesichts der bedingungslosen Bereitschaft, für ein Überleben egal welcher Qualität einfach alles vorgekehrt bekommen zu wollen. Aber diese meine Haltung müsst Ihr mir ja nicht glauben, denn ich muss sie gerade glücklicherweise ja nicht beweisen.

Entgegen anderer Berichte, die ich in diesen Wochen vermehrt lesen kann, glaube ich nicht daran, dass ich als Patient auf Ressentiments der Pflegenden stossen würde. Pflegefachkräfte, die ihren Beruf mit dem Gedanken ausüben, dass der Mensch, der vor ihnen liegt, im Grunde selbst schuld an seiner Lage ist, haben den inneren Spirit ihrer Berufung eingebüsst und müssen den Beruf schnellstens wechseln – und niemand von uns muss Angst vor einer solchen Haltung haben – ganz egal, welche Art von Risiko wir selbst zu verantworten haben, wenn wir sterbenskrank werden. Würden wir diese Grenze wirklich überschreiten und diese Art von Bewertungen vornehmen, so haben wir als humanitäre Wesen wie als Gesellschaft endgültig die Empathie verloren. Was es bedeuten würde, diese Folgen zu tragen, sollte niemand von uns unterschätzen. Die Raucher unter uns, zum Beispiel, können erahnen, welche Dynamik das annehmen kann, denn sie haben in den letzten Jahrzehnten erlebt, wie der Wind drehen kann. Und auch dieser Wind könnte bis ins Spital weiter getragen werden…

Natürlich habe ich Wünsche, aber sie sind in der Weise wohl zu fromm, wie Fromm heute noch verstanden werden kann – nämlich unrealistisch:

Ich wünschte tatsächlich, dass die Pflegeberufe ernster genommen würden – mit verbesserten Löhnen, Arbeitszeitregelungen und explizit im Bereich der Auslastung der IPS (Intensivpflegestationen) mit Ausbildungsprogrammen, welche die Erkenntnisse der ersten Welle der Pandemie zum Anlass nehmen, mehr Personal zu schulen – wenn es getan wird, dann wird davon nicht berichtet, womöglich, um keine „falschen Signale“ zu senden. Und ich wünschte, die Optimierung der Auslastungen von IPS würden weniger unter wirtschaftlichem Druck stehen in Zeiten wie diesen, was dann zu mehr Überhang der Kapazitäten in ruhigeren Phasen führen würde – DAS wären Kostenfaktoren unseres Gesundheitswesens, die unsere Gesellschaft, bezeugt mit ihrem Verhalten, doch eindeutig zu tragen bereit wäre.

Und ich wünschte, die Berichterstattung über alle Aspekte von Covid in unserer Gesellschaft hätte weniger Filter vorgesetzt: Darf die Tatsache, dass ein Grossteil der Covidpatienten Migranten sind, erwähnt werden? Darf darüber berichtet werden, wie gross der Anteil der schweren Fälle unter den Menschen ist, die aus dem Balkan zurück gekehrt sind? Wir wären dann auch hier wieder bei der Empathie, die uns nicht mehr zugetraut wird: Empörung, Klassifizierung, Unruhe wird bei uns eher vermutet als der schlichte Versuch, dem Phänomen mit Aufklärung zu begegnen – und mit Massnahmen, die auch diese Menschen besser schützen.

Womit noch festzustellen bleibt, dass auch und gerade in dieser Pandemie nicht Geimpfte oder Ungeimpfte wirklich die Arschkarte gezogen haben, sondern die wirtschaftlich schlechter gestellten Menschen, die von Lockdowns, Homeschooling und Covid-Gesundheitsrisiken viel negativer betroffen sind als der Durchschnitt all jener, die diese Zeilen lesen. Und da wäre es vielleicht angebracht, sich auch nochmals die Frage zu stellen, ob es uns nicht zu denken geben müsste, dass die in unserer Gesellschaft mittlerweile komplett fehlende Resilienz gegenüber jeder Art von Bedrohung des Lebens um so heftiger auf die Schwächeren zurückfällt. Denn unsere Massnahmen bedingen Wohlstand – dazu passt, dass auch heute auf tausend Stimmen in unserer Presse, welche sich Gedanken über die Verbesserung unserer Impfquote machen, vielleicht eine kommt, welche die Scheinheiligkeit unseres Rufs nach Solidarität brandmarkt angesichts der Tatsache, dass unsere Thematik an der Landesgrenze aufhört und wir bestens damit leben können, dass Impfstoffe woanders dringend gebraucht würden. Denn wenn wir so dringend Impfung wünschen, müsste sie doch Allen zustehen, nicht wahr?

20.August 2021, 3:00

10min schreiben über: Solidarität

Mit dem Begriff der Solidarität, so vielfältig er in diesen Monaten benutzt und „verstanden“ wird, geschieht das Gleiche wie mit anderen Verschlagwortungen, die so typisch sind für unsere Gesellschaft (ich denke da zum Beispiel an den Begriff der Nachhaltigkeit, und wie unterschiedlich sie – je nach Interessenlage – bewertet wird). Wer das Schlagwort wo mit welchen Motiven in den Mund nimmt, macht es so vieldeutig wie schwammig.

Solidarität ist erfahrene Nachbarschaftshilfe bei einer Flutkatastrophe. Wie steht es mit der Spende für ein Hilfswerk in Afrika? Bin ich solidarisch, wenn ich die Kollekte bediene, oder tue ich es einfach wegen schlechtem Gewissen? Und was ist mit dem Menschen, der das beurteilt und wertet? Solidarität wird nicht erst heute eingefordert. Dabei geht vergessen, dass Solidarität – ihrer wirklichen Bedeutung entsprechend – niemals erzwungen werden kann. Was wir gerade erleben, ist eine Absurdität, die sich gegen uns alle richtet und Gemeinschaftssinn zerstört, statt ihn zu fördern. Es ist zum Beispiel einigermassen absurd, dass Geimpfte, welche Rambazamba-Ferien machen und sich bei der Heimkehr um Tests scheren und damit dort weitermachen, wo sie in den Ferien angefangen haben, als solidarisch gelten, weil sie den Pieks empfangen haben. Warum erwarten wir von Mitmenschen, dass sie unbedenklich finden, was für uns selbst keine Sache ist und schauen nicht darauf, wie sich unsere Mitmenschen im Alltag verhalten? Wäre es nicht solidarisch, würden wir uns überlegen, ob man nicht auch Respekt empfinden kann für Menschen, die den Pieks nicht annehmen, obwohl sie dafür auf Annehmlichkeiten verzichten müssen?

Wie steht es um eine Solidarität, zu deren moralischer Akzeptanz gehört, dass sie erzwungen werden kann? Sie bedeutet, dass eine Mehrheit entscheidet, was für jeden Einzelnen gut ist. Wenn wir Kranke nicht behandeln wollen bzw. nicht für sie bezahlen – welches pauschale Urteil haben wir dann über sie gefällt? Und warum? Für was? Für welche eigene Bequemlichkeit sind wir bereit, eine Kampagne zu fahren, welche zwangsläufig Mitmenschen unter die Räder geraten lässt?

05.Juli 2021, 2:00

Die Deutschschweiz und Vladimir und seine Schweizer

Die Schweizer Fussballer haben ihr Land verzückt. Sie haben erstmals seit 67 Jahren wieder eine K.O.-Runde an einem der grossen Fussball-Endrunden überstanden. Und geschafft hat das die Nationalmannschaft mit einem wunderbaren, konstruktiven Auftritt voller Herz und Kampfgeist – gegen den amtierenden Weltmeister. Im ZDF wurde der Schweiz und Frankreich geradezu gedankt für diese Sternstunde des Fussballs, für das bis dato mitreissendste Fussballspiel des Turniers. Und das Deutschschweizer Fernsehen? Es leistet sich eine Peinlichkeit sondergleichen.

Da flippt Kommentator Sascha Rufer live am Mikrofon komplett aus, der Tonmitschnitt seines „Kommentars“ beim entscheidenden, vom Goalie Yann Sommer gehaltenen Elfmeter ist in der ZDF-Studiosendung das besondere Schmankerl, doch als ich dann zurück auf SRF schalte, sitzen da die drei Herren Salzgeber, Rufer und Huggel am runden Tisch, der so trostlos wirkt wie ein halb vergessener Stammtisch in einer leeren Beiz, und über was reden sie? Sie leiden. Sie wälzen die Frage, wie es denn sein könne, dass „diese Schweizer Mannschaft“ so viele Auf und Abs habe, immer erst durch unbedachtes Verhalten auffalle und dann durch pitoyable Leistungen (0:3 gegen Italien), bevor sie dann bereit sei, zu überraschen. Rufer sass da, als hätte er einen sauren Drops gelutscht und Salzgeber mühte sich in bedeutungsschweren Sinnfragen, die einfach niemanden interessieren konnten. Nicht heute, nicht jetzt. Dieses Spiel, dieses wohl grösste Spiel einer Schweizer Mannschaft in den letzten 70 Jahren war für alle ein Vergnügen, DIE Antwort und Punkt. Aber dabei wollten sie es nicht bewenden lassen, wohl angepiekst durch Xhakas Interview nach dem Match, in dem er sehr deutlich machte, wie ihm die Kritik auf den Sack gegangen war und nun Mäuler gestopft worden seien. Hey, ihr alten Männer im Studio. Einfach schlucken, abhaken und sich freuen – und registrieren, dass die Spieler nicht nur dicke Autos fahren, zur Unzeit Tattoo-Studios besuchen und teure Friseurtermine wahrnehmen, sondern auch den Anspruch an sich haben, an keinem Turnier einfach nur dabei zu sein, sondern auch gewinnen zu wollen. Und spätestens in diesem Fall hatte der Gewinner einfach recht. Punkt.

In diesen Minuten, in dieser Stunde nach dem Abpfiff des Spiels, waren die Kommentatoren von SRF weiter weg von den Fans und Zuschauern, als es die Mannschaft je war. Eine Korrektur wurde im Viertelfinale versucht, aber beim verlorenen Elfmeterschiessen gegen Spanien war es dann auch irgendwie einfach, denn das Spiel ging ja unglücklich verloren. So, wie wir Schweizer es gewohnt sind, nicht wahr?

Die Shaqiris, Xhakas und wie sie alle heissen, die Secondos vom Balkan, die Spieler mit dunklerer Hautfarbe und entsprechend vielfältigem Hintergrund – sie Alle zeigen uns eine andere Einstellung, mit Druck umzugehen. Sie haben an dieser EM noch etwas geschafft, was vielleicht noch wichtiger ist: Sie haben uns verständlich gemacht, dass sie auch mit dem Gefühl, zwei Heimatländer zu haben, alles für die Schweiz und das Team geben, und wenn man ihnen nun zuhört, dann glaubt man es ihnen auch. Obwohl es genau gleich klingt wie schon vor Jahren – und auch da schon gültig war. Ein Erfolg verändert eben alles – und das sollte auch in einem Fernsehstudio dann mal gelten dürfen – wenigstens als Momentaufnahme.

Ach ja, in der Romandie und im Tessin, hört man, waren all die Randgeschichten zum Lifestyle der Spieler kein Thema. Abarbeiten daran tun wir uns nur in der Deutschschweiz. Auch der Trainer Vladimir Petkovic ist in unserem Landesteil am meisten Thema gewesen in den sieben Jahren, in denen er nun im Amt ist. Und er? Er steht da wie ein Turm, 1m90 gross, an der Seitenlinie wie auf dem Spielfeld, tröstet einen Spieler, schaut stoisch in die Runde, trifft bei den Spielen viele sehr richtige Entscheidungen – und bleibt bei seiner Linie, die er von Anfang an vorgegeben hat:

Dem Fussballverband ist ein Lob auszusprechen, dass man auf diesen Trainer gesetzt hat. Er hat schon bei den Young Boys und dann bei Lazio Rom mutige Entscheidungen getroffen und offensiven, selbstbewussten Fussball spielen lassen. Und es gehört etwas dazu, nach den Lichtgestalten Köbi Kuhn und Ottmar Hitzfeld die Mannschaft zu übernehmen und ihr vom ersten Moment an einzutrichtern: Und ihr könnt noch mehr. Ihr könnt besser Fussball spielen. Er hat die Mannschaft weiter entwickelt. Und ist in keinem Moment, bei keinem Rückschlag von seiner Philosophie abgewichen. Kritik scheint ihn nicht zu kümmern. Er mag reserviert wirken, vielleicht manchmal sogar etwas arrogant, aber er glaubt an seine Spieler und sie an ihn. Und das hat uns schon ein paar wirklich wunderbare Momente beschert. Selbst aus Ex-Jugoslawien stammend, versteht er die Mentalitäten vieler Spieler in der Mannschaft sehr gut, er kann sie auffangen und ist mit seinem eigenen Lebensentwurf bereits ein Fixpunkt, ein Beispiel, an dem sich die Spieler orientieren können. Und ein Scheitern bedeutet nur eine Chance, dazu zu lernen. Beim nächsten Mal bekommt der Spieler das Vertrauen wieder. Nun haben sie es ihm zurückgezahlt, und das wollten sie unbedingt. Auch das war zu spüren.

Die EM geht noch weiter. Ich schaue sie mir gerne weiter an. Auch, weil „wir“ ein paar der richtig schönen Geschichten des Turniers mit geschrieben haben. Wie ich vom Deutschen Fernsehen weiss…

23.Juni 2021, 2:00

Das Virus und Brock

Brock läuft durch die Strassen, vorbei an leeren Gesichtern hinter Masken. Und die Gesichter ohne Masken sind grau. Er hat das Virus nicht, und doch hat es ihn im Griff, weil es uns alle im Griff hat. Brock war schon immer viel allein, aber lange nicht mehr so oft einsam. Während die Menschen nach der Leichtigkeit haschen, möchte Brock endlich wieder jene Schwere fühlen, die ihm zeigt, dass die Erde anzieht, ihn hält. Er versucht, bewusst zu atmen, und seine Schritte werden langsamer und kürzer. Er sucht nichts mehr in den vorbei huschenden Gesichtern. Er sucht Brock.

Er denkt an den kleinen Jungen und auch an den Teenager, der niemals Zärtlichkeit zwischen Mama und Papa beobachten konnte. Als ihm das bewusst geworden war vor vielen Jahren, hatte er das Gefühl, in einem schwarzen Nichts zu versinken. Wenn die Seele so friert, will sie lieber wieder vergessen. Aber Erinnerungen sind dazu da, eine liebevolle Beobachtung zu versuchen, auf dass der Vergangenheit eine neue Gegenwart folgen kann: Brock betrauert nicht mehr den kleinen Jungen in ihm, aber er wird immer den Schmerz der Zurückweisungen und Frustrationen seiner Eltern fühlen. Noch jetzt kann er die wortlose Verzweiflung fühlen, in welcher Mutter und Vater gefangen blieben, ein Leben lang. Das Virus hätte das nicht geändert. Vielmehr wäre es wohl unerträglich geworden. Für wen zuerst?

Brock kann nicht eine Person nennen, die ihm die Kraft gegeben hat, Gefühle, Zärtlichkeit, Zuneigung und Berührung nicht einfach als Sehnsuchtsgüter zu verstehen sondern ihr Geben und Nehmen zu üben, zu lernen, zuzulassen und zu erfahren, dass dies Güter sind, die jenseits von richtig und falsch einfach unser Leben ausmachen, und damit das Miteinander und unser Dasein mit uns selbst. Brock begreift, so, wie er gerade einen Fuss vor den anderen setzt, dass es gerade die Vielzahl der Begegnungen ist, welche ihn befähigten, das eigene innere Licht zu sehen und leuchten zu lassen.

Brock weiss, dass es seine grösste und wichtigste Aufgabe bleibt, erfahrene Nähe, empfundene und empfangene Liebe in jener Seelentiefe Raum zu geben, in welcher sein Grundvertrauen nur darauf wartet, weiter gestärkt zu werden. Seine Seele will und darf die Enge sprengen, die Liebesworte seiner ihn Liebenden dürfen seine Gewissheit werden. Jedes scheinbar zufällig gehörte oder gelesene liebe Wort hat seine Botschaft für ihn, für Brock. Gelebte, empfundene Liebe und Zuneigung klopft immer bei der eigenen Seele an und fragt: Na, bist Du auch gut zu Dir selbst? Und tut Dir selbst gut, was du machst, gibst, empfängst? Je liebevoller und gütiger Brock an seine Eltern, überhaupt an Menschen denken kann, um so liebevoller ist auch sein Blick auf sich selbst.

Brock lernt. Er weiss, dass er damit niemals „durch sein wird“. Aber es ist schön. Und wenn Momente des Alleinseins Einsamkeit in sich tragen, so kann er sie willkommen heissen, weil sie ihn frei von Ablenkung machen können. Um einen Gedanken fest zu halten, eine Dankbarkeit zu fühlen, einen nächsten Schritt zu machen. Brock will sich weiter begegnen, sich fühlen. Und so wird er auch Menschen begegnen. Er hat unwillkürlich die Maske abgenommen und achtlos in die Hosentasche gesteckt, und eine Frau, die vorbei eilt, lächelt ihn an. Sie gibt ihm zurück, was er ausstrahlt.


Alles, was Brock umtreibt, was ihn beschäftigt, worin er Hilfe sucht und Hilfe schenken kann, ist ein Teil unserer Lebenskunst, die sehr viel mit unserem persönlichen Glück zu tun hat, mit der Qualität und Tiefe unserer Beziehungen, mit der Art und Fähigkeit, Liebe gedeihen lassen zu können. Ganz viel von dem haben wir Corona geopfert. Wir haben pausiert. Einschränkungen auf uns genommen.

Wie viele Menschen haben wir in der Zeit ein Stück weit verloren, weil sie eine andere Einstellung zu den offenen Fragen hatten oder haben, und wir es nicht schaffen, NICHT nur in Schwarz oder Weiss zu denken? Wir teilen Menschen ein in vernünftig und verleitet. In verantwortungsbewusst und fahrlässig. Wir unterstellen Dummheit, wo Unsicherheit herrscht. Nach allen Seiten, damit wir uns hier richtig verstehen.

Herausforderungen wie jene, die in diesem Text oben anklingen, haben ganz Viele unter uns zu meistern. Es wird wohl niemand bestreiten, dass sie seit März 2020 noch viel dunkler auf vielen Menschen lasten können. Und ich behaupte, wir alle kennen einen solchen Menschen. Aber wir sehen sie nicht. Es ist ein Elend, das von keiner Statistik erfasst wird. Und doch verantworten wir es. Wir Alle.
Wie sähe unsere Welt aus, wenn wir uns mehr den inneren Werten unserer Lebensjahre verpflichtet fühlten als der schieren Angst, wir können davon ein paar weniger erleben als erhofft? Was macht unser Dasein auf Erden aus?

Bald soll es ja vorbei sein. Sagen die Einen. Andere bestreiten es, bezweifeln es. Wir werden die Diskussion unter uns Unwissenden endlos weiter führen. Aber Eines ist ganz klar:

Was wir verloren haben, was wir preis gegeben haben, bekommen wir nicht zurück. Nichts von dem, was geschehen ist, ist einfach eine Episode, die wir vergessen werden.

12.Mai 2021, 17:20

Forschungszusammenarbeit kann kein Faustpfand sein

Die Schweiz tut sich schwer mit dem neuen Rahmenabkommen, das die EU als zu Ende verhandelt betrachtet, während es für unsere Seite viel zu viele offene Fragen gibt. Die Folge ist, dass Druck aufgebaut wird. Da bietet es sich an, die Schweiz von den grossen gemeinschaftlichen Forschungsprogrammen in Europa auszuschliessen. Keine Frage, dass das weh tut. Und äusserst fragwürdig ist. Und entlarvend.

Wenn wir etwas in diesen struben und wilden Zeiten lernen, dann ist es das Mantra, dass Lösung und Entwicklung aller offenen und drängenden bis existenziellen Fragen durch die Forschung zu erwarten sind, den technischen Fortschritt, die Entwicklung neuer Medikamente und Energiegewinnungen und -Einsparungen. Doch wenn es den Regierungen tatsächlich so ernst damit ist, dann sollte gerade die Erfahrungen dieser Jahre zeigen, dass die Lösungen, die wir suchen und brauchen, von überall kommen können und die Suche danach eine globale ist. Einen Forschungsstandort wie die Schweiz da mutwillig zurückzubinden, um andere Interessen durchzusetzen, kann ein Schuss in die Beine der eigenen Völker sein und steht eigentlich keinem Verhandlungspartner gut zu Gesicht, genau so wenig wie das koloniale Verhalten von Grossmächten, wenn es um die Regulierung und Sicherung von Impfstoffen oder – früher in dieser Neuzeit – um den Rückbehalt von Maskenimporten geht.

Ich schreibe es ganz ehrlich: Man mag uns Schweizern Sperrigkeit vorwerfen, aber ich habe langsam von dem Gehabe der EU genug. Ich kann zum Beispiel nicht vergessen, dass unsere Nachbarstaaten Italien und insbesondere Deutschland in ihren Zusagen, den Bahnverkehr unseren mit der Neat geschaffenen Verbindungen anzugleichen und entsprechend Bruchteile der Schweizer Investitionen auch selbst zu tätigen, um geschätzte zwei Jahrzehnte hinterher hinken. Es ist also nicht nur ein Jammer, dass wir uns gegenseitig nicht auf neue Verträge einigen können – es bleibt beschämend, was mit den abgeschlossenen Vereinbarungen nicht eingehalten wurde. Das Schweizer Stimmvolk hat – im Gegensatz zu ganz vielen Völkern Europas – mehrmals klar und deutlich zu EU-konformen Verträgen an der Stimmurne ja gesagt. Es muss uns niemand vorwerfen, wir wären Rosinenpicker – schon gar nicht, wenn wir unsere eigenständige, souveräne direkte Demokratie in allen Belangen uns erhalten wollen.

Auch der Druck auf Forschungsimpulse wird daran nichts ändern. Weil zumindest in diesem Bereich doch nicht allen Ernstes die Unvernunft siegen wird. Oder?

09.Mai 2021, 7:00

Die Welt da draussen

Was die Welt so treibt und was sie umtreibt – sie entfremdet sich mir. Ich weiss, das ist mein Problem. Und vielleicht bin ich nicht wirklich gemacht für sie – zumindest nicht so, wie sie sich entwickelt. Oder zeigt sie sich mir einfach erst jetzt so, wie sie eben ist? Mein Wertesystem ist ein anderes – der Vorteil dabei ist einer, der auch Einsamkeit erträgt: Ich muss schauen, dass ich bei mir bleibe.

Im Juni sollen wir über die Kompetenzen des Bundesrates in der Bewältigung der Corona-Zeit abstimmen. Eine Art Nachlegitimation für die Exekutive für die Prinzipien der Krisenbewältigung. Eigentlich ein ganz wichtiges, weil – eben – prinzipielles Thema. Doch ich kenne keinen anderen Aspekt zu Corona, der in der Breite zur Zeit noch interessiert als die Frage, wer wann welchen Impfstoff bekommt – oder eben nicht. Die Menschen haben genug. Sie wollen ihre Freiheit wieder haben, aber sie haben längst akzeptiert und sich zu eigen gemacht, dass sie nach den Risiken beurteilt werden, welche die Impfung als einziges bleibendes Kriterium vorgibt. Der Stand der Impfung wird zum Massstab, welcher den Regierungen nach ihrer eigenen Einschätzung die objektive Begründung liefert, Massnahmen zurück zu nehmen. Der weltweite Erstversuch einer Hypermassenimpfung, für die man Restrisiken sich wegdenkt, wie es noch nie in der Weltgeschichte geschehen ist. Und wer mag vor den Sommerferien und angesichts der Frage der Bedingungen für sich lockernde Reisebeschränkungen noch prinzipielle Diskussionen über grunddemokratische Basisrechte, zumal in einer direkten Demokratie, führen, zum Beispiel über die Bedingungen, unter denen Demonstrationen, welche die Bezeichnung auch verdienen, durchgeführt werden dürfen?

Wir haben seit Anbeginn der Krise der Erhaltung des nackten Lebens mehr Gewicht beigemessen als der Bewahrung einer minimalen Lebensqualität. Wir haben das Recht auf Bildung für mehrere Jahrgänge massiv beschädigt und wir haben für die Bewahrung der wirtschaftlichen Grundfunktionen unserer Gesellschaft Branchen mit nicht allzu grossem Gewicht fürs BIP einer Rosskur unterzogen, deren Kollateralschäden die bereits einkommensschwachen Menschen unserer Vereinzelungsgesellschaft begleichen werden. Wir haben das alles für die so unter Druck stehenden Pflegenden, für die Ärzte und schwer kranken Patienten getan. Doch gleichzeitig ist das Prinzip der Wirtschaftlichkeit weiter angewendet worden, sind Intensivbetten zum Teil noch abgebaut worden, hat der Kampf um Pflegekräfte zu Abwerbungen in anderen Ländern geführt – aber nicht zu sofort an die Hand genommenen Programmen zur Adhoc-Ausbildung weiterer Betreuungspersonen. Es mag sie geben, aber davon zu reden, würde bedeuten, der Angst einen Lösungsansatz entgegen zu stellen, und die Angst wird gebraucht. Aber es bleibt dabei: Ganz viele Pflegekräfte werden uns fehlen, denn Klatschen genügt nicht – und ansonsten hat die Politik wenig bis nichts für sie getan.

Wir haben ganz viel aufgegeben angesichts einer Angst, welche wir absurd gross haben werden lassen in unserer hoch entwickelten Welt, die alles Vergnügen bejaht aber die Endlichkeit ausblendet. Und wir werden viel zu viel davon auch nicht zurück bekommen – weil unser Verhalten eben Gründe hat und zeigt, wie sehr wir als Gesellschaft korrumpierbar sind, weil wir einfach leben wollen im Saus und Braus. Und so werden wir uns auch in der Klimafrage verhalten. Da mache ich mir nichts vor. Denn es wird genügend Fachleute, Experten und, ja, Wissenschaftler geben, welche uns glauben lassen, mit dem technischen Fortschritt würden wir durch weiteres Wachstum sogar weniger Ressourcen verbrauchen. Die Verantwortung für unser Ende und das Ende, das wir herbeiführen, ist etwas für später.

Derweil gibt es unter den Schwächeren unter uns eine vielfache Anzahl von Menschen, die sich mit Angstpsychosen nicht mehr aus der Wohnung wagen. Wenn wir längst nicht mehr von Corona-Statistiken reden werden, wird man uns die ersten Statistiken zu den bleibenden Verlierern der Krise vorlegen. Vielleicht.

In diesen Tagen hat das Schweizer Parlament sich bei der Regelung der Organspende für einen grundlegenden Wechsel des Systems entschieden. Zukünftig wird auch bei uns grundsätzlich davon ausgegangen, dass ein Hirntoter seine Organe spenden will – und es muss keine ausdrückliche Willenserklärung des Betroffenen mehr vorliegen. Das Recht des Menschen auf körperliche Unversehrtheit weicht dem Verlangen, unbedingt leben zu wollen, Koste es andere, was es auch wolle. Wie viele Menschen erleben heute mit gespendeten Organen plötzlich psychische Probleme? Und was, wenn zukünftig dazu auch der Verdacht nicht mehr weggewischt werden kann, dass der Spender womöglich doch einer ohne tatsächliches Einverständnis ist?

Wir verlieren immer mehr Tiefe in unserem Leben, aber dafür ist das Leben immer lauter und – bitte – sensationeller. Auch deshalb kommen die Fragen nach dem Ende doch bitte immer später oder gar nie. Ich höre immer wieder den Wunsch, der eigene Tod möge einen doch bitte im Schlaf heimsuchen. Noch nie habe ich jemanden die Sorge äussern hören, was mit dem Menschen sein mag, der am Morgen vielleicht neben unserem Körper erwacht? Bewusstsein… Es ist für uns etwas für die Yoga-Stunde, für irgendeine Werkstatt, in welcher wir uns unser Wohlfühlprogramm zurecht schustern, um einen weiteren Tag lang unbeschwert zu sein.

Mit oder ohne Corona, mit eigenen oder fremden Organen, mit Selbstverantwortung oder Fremdbestimmung, in Sicherheit oder Freiheit: Wir leben gar nicht wirklich.